Ganz am Anfang stand die ungläubige Freude. Nämlich darüber, tatsächlich zum ersten Mal im Leben Glück bei einer Verlosung gehabt zu haben. Per Mail informierte mich die UEFA Ende letzten Jahres darüber, dass ich vier Karten für ein Spiel der Fußball-EM 2016 bekommen hatte. Und zwar nicht für irgendein Spiel, nein, für das Halbfinale in Marseille, in dem – wenn alles optimal liefe – die deutsche Mannschaft stünde. Es war ein seltsames Gefühl, diese Bestätigung der UEFA zu lesen, denn ich hatte mir nicht den Hauch einer Chance ausgerechnet, als ich mich für einige Vorrunden-, ein Viertelfinal- und eben dieses Halbfinalspiel beworben hatte. Nun waren vier Karten der zweitbilligsten Kategorie aber tatsächlich mein, und sofort gingen die Vorbereitungen los: Flug nach Marseille gebucht, Ferienwohnung für fünf Leute im Herzen der Stadt reserviert.

Wie ein diffuses Gefühl plötzlich konkret wird

Danach verstrichen einige Monate, in denen dem Halbfinal-Trip immer etwas Unwirkliches anhaftete. Es war alles noch so weit weg, im Bereich des Möglichen, so wenig greifbar. Selbst, als der Ball dann tatsächlich in Frankreich rollte und sich die zähe Gruppenphase zu entfalten begann, kam es mir kaum glaubhaft vor, dass ich in wenigen Wochen beim vorletzten Spiel des Turniers auf der Tribüne sitzen sollte. Vorab hatte ich all jenen, die mich zu den Karten beglückwünschten, in einem Versuch, meine diffusen Gefühle zu überspielen, erzählt, dass mir auch ein Halbfinale zwischen Wales und Island Freude bereiten würde. Das war natürlich als Witz gemeint und schlicht die abstrusesten Beispiele, die mir von allen 24 Teilnehmern einfielen. Dass es beinahe tatsächlich so gekommen wäre, konnte ich nicht ahnen. Wer hätte schon vorhergesehen, dass ausgerechnet die kantigen Isländer den gemeinhin so bezeichneten "großen Fußballnationen" vormachen würden, was man ohne Stars, aber mit Teamgeist erreichen kann? Und wer hatte den Walisern, trotz ihres bereits vorab errungenen Titels der besten Fan-Hymne (Manic Street Preachers - "Together Stronger") diesen starken Offensivfußball zugetraut? Oliver Kahn nicht, Mehmet Scholl nicht, Lothar Matthäus sowieso nicht - und ich ebenso wenige. Außerdem hatte ich ja gegenüber meinen Freunden ohnehin geflunkert: Selbstverständlich wünschte ich mir nichts sehnlicher als einen echten Fußball-Klassiker live zu sehen, also Deutschland gegen England, gegen Frankreich oder gar gegen Italien.

Bekanntermaßen wurde es tatsächlich Deutschland gegen Frankreich. Nach einem in jeder Hinsicht denkwürdigen, unbegreiflichen und Nerven aufreibenden Elfmeterkrimi gegen Italien wusste ich, dass ich beim vorgezogenen Endspiel, dem Aufeinandertreffen der beiden besten Mannschaften des Turniers live dabei sein würde.

Wie man in wenigen Stunden von Schwabing an die Côte d'Azur kommt

Jetzt war sie endgültig da, die Vorfreude. Sie wuchs in einem Maße, das mich sogar das etwas mulmige Gefühl über ein Halbfinale ausgerechnet in Marseille vergessen ließ – dieser tendenziell etwas zwielichtigen und von seltsamen Gestalten bevölkerten Stadt (das dachte ich tatsächlich – ich hatte ja keine Ahnung), in der es gleich zu Beginn der EM massive Ausschreitungen zwischen geradezu obszön dumpfbackigen Hooligans aus Russland und England gegeben hatte. Ich hatte die Bilder der umherfliegenden Tische und Stühle der Straßencafés noch im Kopf, aber ganz weit hinten. Am Donnerstagmittag saß ich selbst noch in einem Straßencafé, allerdings in Schwabing, nur um wenige Stunden später im Stade Vélodrome zu Marseille Platz zu nehmen. Meine Vorbehalte gegenüber der unbekannten Stadt am Meer waren schneller weggewischt als der Name "Lukas Podolski" auf Joachim Löws Startelf-Tafel, aber dazu später mehr.

Nach traumhaften Ausblicken auf die Alpen und die Côte d'Azur hatten wir südfranzösischen Boden unter den Füßen, atmeten salzige Meeresluft und erwischten sofort den Bus zum Bahnhof Saint-Charles, von dort aus die U-Bahn zum Stadion. Im rappelvollen Zug zeichnete sich bereits ab, wie die Stimmung am gesamten Abend werden würde: deutsche und französische Fans begegneten sich zwar nicht mit grenzenloser Harmonie, verzichteten aber auf jegliche Aggression und fochten ihre Duelle per Gesang aus. Die einzige unangenehme Begegnung mit der französischen Seite ereignete sich sofort nach unserer Ankunft am Bahnhof. Zwei Fans der "Equipe tricolore", in aktuelle EM-Trikots gekleidet, wanzten sich von hinten an uns heran. Was zunächst mit einem charmanten, in gebrochenem Deutsch vorgetragenen "Heute geht es nach Hause, Deutschland" begann, mündete bald in Schlagworte wie "Verdun", "1917" und "Rache für den Krieg" und eine unangenehme körperliche Nähe. Die beiden ließen sich jedoch mitsamt ihrer Alkoholfahne schnell abschütteln, und abgesehen davon verlief das Aufeinandertreffen von zwei sicherlich nicht pflegeleichten Anhängerschaften geradezu harmonisch.

Wie sich das Stade Vélodrome als wahrer Fußballtempel entpuppte

Das Stade Vélodrome

Das Stade Vélodrome zählt sicherlich zu den beeindruckendsten Stadien, die ich je gesehen habe. Und ich wohne immerhin in der Stadt, die einen überdimensionalen Autoreifen namens Allianz Arena ihr Eigen nennt. Die geschwungene Wellenform des Stadiondachs passt perfekt zum mediterranen Ambiente Marseilles, und im Inneren bietet das Vélodrome perfekte Sicht von allen Plätzen. Bis wir unsere Plätze einnehmen konnten, mussten wir allerdings erst eine kilometerlange Fußstrecke bewältigen. Warum die UEFA uns von der U-Bahn aus einmal komplett um das Stadion herumschickte, anstatt die wesentlich kürzere Tour in der Gegenrichtung anzubieten, erschloss sich mir nicht. War aber auch egal, denn auf der Wegstrecke konnte man sich noch einen Happen zu essen oder etwas zu trinken holen und zahlte dafür deutlich weniger als Stadioninneren, wo ein Becher Carlsberg-Bier mit stolzen 6,50 Euro zu Buche schlug.
Die Einlasskontrollen waren nicht strenger als bei jedem Bundesligaspiel, dafür war die Präsenz von bis an die Zähne bewaffneten und schwer gepanzerten Armeesoldaten unübersehbar. Auch die über dem Stadion kreisenden Militärhubschrauber zeigten selbst dem unbedarftesten Fußballfan, dass in Frankreich seit November 2015 der Ausnahmezustand herrscht. Ein Anlass zur Angst bot sich aber weder vor noch während des Spiels und auch nicht in den zwei Tagen Marseille-Aufenthalt nach dem Halbfinale.

Die Stimmung im Stade Vélodrome war schon eine Stunde vor Anpfiff bestens, obwohl noch einige Plätze leer waren. Nach und nach sangen sich die Fans warm, wenig überraschend bewiesen die Franzosen hierbei die größere Kunstfertigkeit. Ein besonderer Moment war das gemeinsame "Hu!"-Klatschen, das in den Wochen davor die Isländer mit ihren salonfähig gemacht hatten. Angeleitet vom Stadionsprecher stimmten rund 40.000 Fans etwa eine Viertelstunde vor Anpfiff in die Zeremonie ein, und ich ließ es mir nicht nehmen, diesen Moment für die Nachwelt festzuhalten.

Wie Frankreich erst verstummte und dann in Ekstase ausbrach

Als es dann endlich ernst wurde und die Mannschaften das Spielfeld betraten, waren die französischen Zuschauer sofort da. Von null auf hundert schwoll ein gellendes Pfeifkonzert an, wann immer ein deutscher Spieler auf der Leinwand zu erkennen war. Auch bei der Hymne waren vereinzelte Pfiffe zu hören, eigentlich ein Unding, aber die deutschen Zuschauer zeigten eine ähnlich schlechte Kinderstube, als die "Marsellaise" erklang. Überhaupt, die französische Nationalhymne: Trotz Französisch-Leistungskurs habe ich alleine an diesem Abend das schwungvolle Liedchen gewiss öfters gehört als zuvor insgesamt in meinem ganzen Leben. Das französische Publikum stimmte die "Marsellaise" bei gefühlt jeder sich bietenden Gelegenheit inbrünstig an. Klar, das Lied ist ja auch nicht zufällig nach der Stadt benannt, in der unser Spiel stattfand, denn es waren Soldaten aus Marseille, die es während der Revolutionskriege der 1790er-Jahre ins Land trugen.

Nur für etwa 30 Minuten lang verging den allermeisten Franzosen an diesem Abend die Lust zu singen. Das war zwischen der 10. und 40. Spielminute, als der anfängliche Schwung ihrer Mannschaft verpufft war und der Gegner aus Allemagne ihr die Luft zum Atmen nahm. Tatsächlich war die Überlegenheit der deutschen Elf phasenweise so hoch, dass die Franzosen in stiller Resignation die Kroos'schen Passorgien, Kimmich'schen Flankenläufe und Boateng'schen Ballgewinne über sich ergehen ließen. Sie spürten, dass ein Tor in der Luft lag wie der Gras-Geruch vom Joint, den irgendwer in meiner Nähe rauchte. Hoch oben auf der Tribüne hatte ich lange Zeit das Gefühl, Zeuge eines besonderen Fußballabends zu werden. Aus deutscher Sicht, versteht sich. Letztlich wurde es ja dann doch einer aus französischer Sicht. Was in der 45. Minute geschah, ist bekannt, und auch das Geschehen in der zweiten Halbzeit muss ich nicht noch einmal erzählen. Die Franzosen ließen spätestens nach dem ersten Tor kaum noch einen Zweifel daran aufkommen, wer als Sieger den Platz verlassen würde. Und auf den Zuschauerrängen sangen sich ihre Landsleute geradezu in Ekstase. Aus allen Ecken des Vélodrome peitschte die "Marseillaise" empor, stellenweise war es unvorstellbar laut im weiten Rund. Eine derartige Stimmung habe ich in der Allianz Arena – trotz einiger großartiger Fußballanbende – noch nie erlebt.

Wie das Ergebnis zum kleinen Schönheitsfehler mutierte

Als sich der beste deutsche Feldspieler, Jerôme Boateng, in der zweiten Hälfte schmerzverzerrt auf dem Rasen krümmte aus ausgewechselt werden musste, war die Luft sowohl bei der Mannschaft als auch bei den deutschen Anhängern raus. Man spürte einfach, dass das Wunder nicht zu schaffen war. Das 2:0, wieder durch den großartigen Antoine Griezmann, ließ das Vélodrome in seinen Grundfesten erbeben. Wir hatten noch eine Viertelstunde Zeit, uns mit der zwar schmerzhaften und gewiss nicht verdienten, aber letztlich akzeptablen Niederlage abzufinden. Schnell war klar, dass das Ergebnis nur ein kleiner Fleck auf der ansonsten blütenreinen Weste dieses großartigen Abends werden würde.

Nach dem Spiel wurde es chaotisch: Die U-Bahn "Rond-point du Prado" war, offenbar wegen Überfüllung, gesperrt, so dass wir uns gemeinsam mit anderen geknickten deutschen Fans, und umringt von frenetisch hupenden und feiernden Franzosen, auf einen langen Fußmarsch bis zur nächsten Metro-Station machten. Diese war ebenfalls gesperrt. Zu stören schien das kaum jemanden, aber mir erschien es in diesem Augenblick als schwer begreiflich, wie ausgerechnet ein Verwaltungsmonster wie die UEFA, die jeden Millimeter einer Fußballspiels reglementiert, offenbar kein Problem damit hat, dass die Fans nach dem Spiel erst einmal eine knappe Stunde bis zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel laufen müssen. Marseille kam mir an diesem Abend als seltsam weitläufige, gesichtslose Stadt vor. Allerdings sah ich dies durch die Augen eines übermüdeten, körperlich völlig geschafften und zum Feiern nicht eben aufgelegten Menschen. Spätestens als ich unsere gemietete Ferienwohnung in unmittelbarer Nähe des Alten Hafens betrat, musste ich die Meinung revidieren. Denn der Blick auf die mitternächtliche Stadt war selbst für müde Augen unschlagbar.

Ausblick auf die Kathedrale Notre-dame de la garde

Wie Marseille seine Schönheit offenbarte

In den folgenden zwei Tagen hatte ich ausreichend Gelegenheiten, Marseille von einer gänzlich anderen Seite kennenzulernen. Von wegen gefährliche, zwielichtige Stadt – Marseille ist eine strahlend schöne, stolze Metropole mit einer malerischen Altstadt, lässigem Flair und wunderbaren Cafés, Eisdielen, Bars und Restaurants. Das Selbstbewusstsein der zweitgrößten französischen Stadt rührt nicht von ungefähr: Marseille wurde vor rund 2400 Jahren von griechischen Seefahrern gegründet und ist damit nicht nur bedeutend älter als etwa Paris, sondern überhaupt die älteste Stadt Frankreichs. Das Leben wogt seit jeher im Rhythmus des Mittelmeers, und was die anderen hoch oben im Norden treiben, interessiert die "Marseillais" wenig. Ihnen kann keiner was, egal, was die Wirtschaftsprognosen oder die Kulturvermittler auch sagen mögen. Die antike Geschichte der Stadt ist im heutigen Stadtbild nur mehr in Ansätzen erkennbar – so verlaufen angeblich die malerischen, engen Altstadtgassen des Viertels "Le Panier" noch nach den antiken Grundzügen. Mit seinen trendigen Cafés, Galerien und den mit bunter Street Art bemalten Wänden ist das Panier-Viertel allerdings ziemlich modern und besitzt ein einmaliges Flair. Dass sich die hippen Trendjäger aus den mitteleuropäischen Großstädten trotzdem nicht hierher verirren und das Viertel eine wunderbare Gelassenheit ausstrahlt, macht es nur noch schöner.

Bunte Hauswände und nette Cafés im Panier-Viertel

So marschierten wir bei äußerst mediterranen 33 Grad im Schatten durch eine Stadt, die um ihre Reize weiß, aber keineswegs den Drang verspürt, mit ihnen zu prahlen. Selbst ihren absoluten Blickfang drapiert sie ganz selbstverständlich mitten hinein ins Häusermeer: Die wuchtige Kathedrale Notre-dame de la garde, die hoch oben auf einem 160 Meter hohen Hügel thront. Von hier aus eröffnen sich atemberaubende Blicke über das gesamte Stadtgebiet bis hinaus auf die Îles Frioul vor der Küste. Auf einer dieser kleinen Inseln befindet sich das Château d'If, die Festung, in der Alexandre Dumas' "Graf von Montecristo" eingekerkert war. Natürlich nur fiktiv, denn wirklich existiert hat die Figur nicht. Trotzdem ist das Château längst eine Touristenattraktion geworden. Freilich hatte ich in den zwei Tagen keine Zeit für die Fährfahrt hinaus zur Insel, ich hatte schließlich im Stadtgebiet genug zu tun. Alleine die Stadtteile rund um den Alten Hafen, das historische Herz Marseilles, zu bewundern, nimmt Zeit in Anspruch. Überall finden sich gründerzeitliche Prachtbauten, schöne Plätze, nette Läden und gefühlt zehntausende Pizzerien. Der italienische Einfluss auf Marseille ist überall spürbar, denn schon im 18. Jahrhundert strömten tausende Gastarbeiter aus Italien in die wichtige Hafenstadt. Trotzdem ist alles unverkennbar französisch geprägt, ein "laissez-faire" mit stark mediterranem Einschlag. Als wir am letzten Tag noch an einem der Stadtstrände, dem Plage des Catalans, einen Abstecher ins herrlich erfrischende Mittelmeer unternahmen, waren wir restlos davon überzeugt, dass sich der Besuch in Marseille auch abseits des Halbfinal-Erlebnisses gelohnt hätte. Wir haben eine Stadt für Liebhaber entdeckt, eine charmante Metropole, in der man sich auch ohne Deutschland-Trikot bestens vergnügen kann.

Blick hinunter zum Alten Hafen

Und da war sie wieder, die ungläubige Freude darüber, dass ich das alles wirklich erlebt habe. Ein EM-Halbfinale als Zuschauer live im Stadion. Den Kurzurlaub am sonnigen Mittelmeer. Das Glas Rotwein in einer Ferienwohnung mit Blick auf das Wasser. Wenn man sagt: "So läuft das Leben eben", dann meint man damit meistens etwas Negatives. Aber manchmal läuft es eben auch in die andere Richtung so. Dann passt ein paar Tage lang alles perfekt und man hat das Gefühl, dass es immer so sein sollte.

Aussicht auf die Îles de Frioul