Buchkritik: "Am Tag davor" ist viel passiert

Ein Mann schwört Rache und zieht los, um den Schuldigen am Tod seines Bruders zu finden und zu bestrafen.

Diese ziemlich knappe Zusammenfassung von Sorj Chalondons „Am Tag davor“ klingt vermutlich ein wenig banal. Gefühlt basiert jeder zweite Hollywood-Actionfilm auf einem ähnlichen Schema. Doch „Am Tag davor“ ist alles andere als Literatur von der Stange und ganz gewiss kein banaler, trivialer Rache-Roman. Ich habe nie zuvor ein Buch gelesen, in dem die Schuldfrage mit all ihren Facetten – Rachsucht, Verblendung, Wahn, Verbitterung – so komplex und dabei so packend behandelt wurde.

Worum geht es? Der sechzehnjährige Michel vergöttert seinen vierzehn Jahre älteren Bruder Joseph, der in einer Kohlenzeche im nordfranzösischen Lens-Liévin arbeitet. Am 26. Dezember 1974 – dem Abend, bevor in der Zeche 42 Bergleute bei einem schweren Grubenunglück sterben – fahren Michel und Joseph mit dem Moped durch die dunklen Straßen der Stadt. Es sind die letzten Augenblicke, die sie zusammen erleben. Bald darauf ist Joseph tot.

Michels Familie zerbricht, er zieht nach Paris, findet dort eine Ehefrau und ein bisschen Glück und arbeitet über Jahrzehnte hinweg als Fernfahrer. Doch die Vergangenheit lässt ihn nicht los: in seiner Garage baut er sich eine Art Erinnerungsschrein mit Bergarbeiter-Reliquien seines Bruders. Als auch seine Frau stirbt, ist Michel ungebunden und frei und kann endlich seinen lange gehegten Plan in die Tat umsetzen: Zurück in die alte Heimat fahren und den Mann zur Rechenschaft ziehen, den er für das Grubenunglück und damit für den Tod seines Bruders verantwortlich macht.

Als Michel schließlich vor Gericht landet, erfährt er – und wir als Leser mit ihm – dass die Wahrheit mehrere Gesichter hat. Gleichzeitig brechen jede Menge alter Wunden auf. Sorj Chalondon schildert diese Ereignisse  mit einer unglaublichen Präzision und Wucht – und liefert dem Leser gegen Ende hin noch eine handfeste Überraschung mit dazu. Es ist kaum möglich, mehr zu verraten, ohne zu spoilern. Und das wäre bei diesem Buch wirklich unglaublich schade.

In Frankreich, wo es 2017 unter dem Titel „Le jour d'avant“ erschien, wurde „Am Tag davor“ ein Riesenerfolg bei Kritikern und Publikum. Hierzulande brauchte es das oft verschmähte „Literarische Quartett“, um das Werk einem breiten Publikum bekannt zu machen. Der Erfolg überrascht jedenfalls kaum angesichts des fesselnden Sogs, den dieses Buch entfacht. Im schwierigen Jahr 2020, in dem ich aus verschiedenen Gründen nur wenig zum Lesen gekommen bin, war dieser vergleichsweise schmale Roman ein absolutes Highlight. Ob im Zug, im Wartezimmer beim Arzt oder todmüde nachts im Bett: Immer musste ich wenigstens noch ein paar Seiten weiterlesen, um zu erfahren, was denn nun wirklich geschehen ist im Dezember 1974 in der kleinen Bergarbeiterstadt. Es hat sich definitiv gelohnt.

Sorj Chalondon - "Am Tag davor", dtv, München 2019