Das Verhalten der Anderen
Natürlich hält niemand sich selbst für verhaltensgestört. Übel benehmen tun sich immer nur die Anderen. Wem das noch nie aufgefallen ist, der lügt. So einfach ist das.
Mir beispielsweise ist schon unzählige Male das folgende passiert: ich fuhr in einer rappelvollen U-Bahn durch den Münchner Untergrund, mal im Stehen eingekeilt zwischen schlecht gelaunten Berufspendlern und wirr durcheinander sprechenden Touristen, die verzweifelt den verkehrt herum an der Decke angebrachten Netzplan zu studieren versuchten, mal mit dem Glück, einen der Sitzplätze ergattert zu haben. Dann hielt der Zug an der nächsten Haltestelle, sagen wir der Einfachheit halber, am Marienplatz. Natürlich stiegen hier noch mehr Leute in die bereits volle Bahn ein. Faszinierend war dabei, mit welchem Blick viele von ihnen den Wagen betraten: Erst ungläubig darüber staunend, dass innen tatsächlich so viele Fahrgäste waren, wie die gegen die Türscheibe gequetschten Leiber von Außen vermuten ließen. Dann wütend und mit zusammengekniffenen Augen jeden einzelnen Fahrgast musternd, der die Frechheit besaß, auf einem der Sitzplätze zu sitzen und ihnen damit zuzumuten, die zwei Minuten bis zur nächsten Haltestelle stehend zuzubringen. Selbstherrlichkeit in ihrer großartigsten Form bei Menschen, die für Selbstherrlichkeit nicht den geringsten Grund besitzen.
Oder nehmen wir die Zeitgenossen, die sich mit der größten Selbstverständlichkeit an einer meterlangen Schlange vorbeidrängeln, ganz nach vorne zum Schalter gehen und auf den Hinweis, dass vor ihnen noch etwa hundert weitere Personen dran seien, mit dem erstaunten Ausruf reagieren, dass sie ja nicht wussten, dass diese Leute alle hier anstanden.
Oder nehmen wir die Leute, die nie gelernt haben zu grüßen. Ich habe als Schüler und Student mal einige Jahre an der Kasse einer Tankstelle gearbeitet. Und in all den Jahren habe ich nie mein Erstaunen darüber verloren, wie viele Menschen nicht in der Lage sind, einen Gruß zu erwidern oder sich für eine erbrachte Dienstleistung zu bedanken. Übrigens schaffen es auch erstaunlich wenige, sich die Nummer ihrer Zapfsäule zu merken, aber das gehört nicht hierher.
Das waren nun klassische Beispiele für die Verhaltensgestörtheit der Anderen. Geäußert aus der Sicht von einem, der selbstverständlich gegen derlei Eskapaden völlig immun ist. Von einem, der sogar seinen Mitmenschen die Tür aufhält, wenn die Situation es verlangt. Fraglich ist nun jedoch, ob diese Anderen, also die Verhaltensgestörten, über denjenigen, der sie gerade in Gedanken für verhaltensgestört hält, ebenfalls denken: "Wie führt der sich denn auf? Wieso hält denn der der alten Frau die Tür auf? So etwas Krankes macht man doch nicht!"
Möglich. Dann wäre auch ich verhaltensgestört, zumindest aus deren Sicht. Obwohl ich doch wirklich ganz und gar normal bin, das schwöre ich. Und wenn ich doch einmal etwas mache, was von der Norm abweicht, dann geschieht das aus Versehen. Wie das eine Mal, als ich in der Apotheke eine Zeitschrift geklaut habe, in dem festen Glauben, sie wäre umsonst. Oder als ich mich versehentlich ganz vorne in der Schlange angestellt habe anstatt hinten, weil ich … jedenfalls, ich bitte Sie! Was heißt denn da "verhaltensgestört"?