Die bekleidete Angst
Es ist gar nicht lange her, da bekam ich es mit der nackten Angst zu tun. Ich erinnere mich noch genau an den Abend. In meiner Wohnung lief der Fernseher, von Zimmer zu Zimmer, vor und zurück, unverdrossen und voller Energie. In dieses Spektakel hinein klingelte es plötzlich an meiner Tür. Ich öffnete, und draußen stand sie. Splitterfasernackt, zitternd, ein jämmerlicher Anblick. Es ist schwer zu begreifen, warum wir so viel Angst vor so etwas lächerlichem wie der nackten Angst haben. Vermutlich ist das unsere deutsche Prüderie – kaum ist etwas unbekleidet, geht uns die Düse, wenn Sie verstehen, was ich meine. Jedenfalls fragte mich die Angst, ob sie hereinkommen dürfe, ihr sei furchtbar kalt, draußen sei es so dunkel und es wären lauter seltsame Gestalten unterwegs und was nicht noch alles. "Natürlich", sagte ich, "kommen Sie rein, Sie armes Ding, warten Sie, ich hole Ihnen erstmal was zum Anziehen." Eingehüllt in meinen ausgewaschenen Jogginganzug, der, obwohl er ein Anzug ist, bei formellen Anlässen nicht gerne gesehen wird, ging es der Angst rasch besser. Sie taute richtiggehend auf und wir kamen ins Plaudern. "Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Scheißleben ist", sagte sie. "Ständig bekomme ich es mit wildfremden Leuten zu tun, und alle sind sie totenblass, haben schmerzverzerrte oder panische Gesichter, im günstigsten Fall sind sie nur extrem angespannt. Und dann stehe ich ja auch noch immer nackt vor diesen Menschen! Das macht die Lage für mich auch nicht gerade angenehmer." Ich pflichtete ihr bei und schenkte ihr noch einen zweiten Kaffee ein. Dann fragte ich, wieso sie sich diesen Job überhaupt ausgesucht habe, ich meine, nackte Angst, wie kommt man denn auf so einen Karriereweg überhaupt? "Meine Eltern sind schuld", murmelte sie, mit trübem Blick ins Nichts starrend, das es sich gerade auf meiner Tischplatte gemütlich gemacht hatte. "Mama und Papa sagten immer: Du brauchst einen Beruf, in dem du keine Existenznöte haben musst. Für sie kamen nach diesen Kriterien nur drei Berufsfelder in Frage: Anwältin, Totengräberin oder eben nackte Angst. Denn all das sind Dinge, ohne die der Mensch nun mal nicht auskommt und die ergo immer gefragt sind. Vor allem in der heutigen Zeit hat ja wirklich jeder ständig Angst. So gefragt wie jetzt war die Angst seit dem letzten Weltkrieg nicht mehr." In diesem Augenblick lief rein zufällig der Fernseher vorbei und zeigte stolz die Nachrichten des Tages. "Sehen Sie?", rief die bekleidete Angst und zeigte auf die sichtlich bewegten Bilder, "Da! Krieg, Hungersnöte, Finanzkrise, Abwertung des Geldes, bedrohte Existenz … überall Angst. Sogar beim Sport! Abstiegsangst in der Bundesliga! Verstehen Sie jetzt, warum ich meinen Job hasse?"
Ich nickte mitfühlend und versicherte ihr, dass ich wusste, wie sich Stress im Job anfühlt.
"Aber diesen Stress kennen Sie sicher nicht", rief die Angst aus. "Ich habe ja schon Mitarbeiter eingestellt – die blanke Panik und die große Sorge. Die nehmen mir viel Arbeit ab, auch wenn die eine zuweilen gar nichts weiß, weil sie eben blank ist, und die andere sich ständig den Kopf irgendwo stößt, da sie zu groß ist. Aber ich beklage mich nicht. Ohne die beiden wäre ich schon längst am Ende, weil mir alles über den Kopf gewachsen wäre. Trotzdem – ich ertrage dieses Dasein nicht mehr. Nie kann ich abschalten! Ständig, in jeder Sekunde, gibt es irgendwo auf der Welt jemanden, der es mit mir zu tun bekommt."
Ich betrachtete diese verzweifelte Gestalt an meinem Tisch mit Sorge. "Und, was meinst du?", fragte Sorge. "Weiß auch nicht", sagte ich und versprach der nackten Angst, dass sie wenigstens den Jogginganzug behalten dürfe. "Ehrlich?", fragte die Angst. "Aber dann bin ich ja nicht mehr nackt."
"Macht doch nichts", entgegnete ich. "Dann muss halt jemand anders diesen Posten bekleiden."
"Aber ich habe doch schon etwas an!", protestierte Posten.
"Schnauze!", brüllten die bekleidete Angst und ich gleichzeitig.
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