Die Freiheit in der Nacht
Projekt "Best Of": Ich stelle nacheinander meine Lieblings-Kurzgeschichten der Jahre 2013 bis 2017 online. Manche in Originalform, manche leicht überarbeitet. Dies ist Teil 6 der Reihe, hier gibt es alle Texte im Überblick
Die Straßen ziehen vorbei. Es ist Nacht, doch man merkt es nicht so richtig. Der Taxifahrer fährt zu schnell für meinen Geschmack. Aber ich sage nichts. Mein Kopf lehnt an der Scheibe, und meine Augen versuchen vergeblich, die vorbeizischenden Häuser festzuhalten. Das Hauptgebäude der Universität mit dem Brunnen. Ich sehe schemenhafte Gestalten, die zu später Stunde noch auf dem Vorplatz stehen und Dinge tun. Trinken vielleicht. Und jetzt das Siegestor. Als das Taxi an der Ampel direkt neben dem Tor stehenbleibt, wandern meine Augen reflexhaft nach oben. Doch ich kann die Spitze des Torbogens nicht sehen, wir sind zu nah. Kurzzeitig überlege ich, ob ich nicht einfach hier aus dem Taxi aussteigen soll und mich zum Schlafen zwischen zwei Pfeiler des Siegestors legen soll. Warm genug wäre es ja. "Dem Sieg geweiht, vom Krieg zerstört, zum Frieden mahnend." Die Inschrift habe ich mir gemerkt, und würde mich jemand im Siegestor entdecken und aus dem Schlaf reißen, würde ich sie ihm vermutlich ins Gesicht schreien.
Die Ampel wird grün, der Taxifahrer gibt so ruckartig Gas, dass es mich leicht in den Sitz drückt. Von hier hinten aus kann ich das Tacho nicht erkennen. Aber es sind bestimmt deutlich mehr als fünfzig Sachen, mit denen wir jetzt die Leopoldstraße hinunter rauschen. Die hoch aufragenden Pappeln an beiden Seiten der Straße nehme ich nur als Umrisse wahr, sie huschen vorbei, ohne sich in meine Netzhaut einzubrennen. Wie müde und leer ich bin. Aber seltsam, wenn man so leer ist, müssten Eindrücke wie die hohen Bäume neben der Straße doch eigentlich genug Platz haben, um sich festzusetzen. Oder die vielen Leute, die vor der Roxy Bar zum Rauchen herumstehen. Warum rauchen die? Ist doch ungesund. Vielleicht bin ich ja gar nicht leer, sondern im Gegenteil viel zu voll. So voll, dass ich nichts mehr aufnehmen kann, weil alles zu viel ist. Zu viele Menschen, zu viele Straßenlaternen und ein zu schnell fahrendes Taxi. Und zu viel Drama in meinem Leben. Zu viel Manuel mit seinem Gelaber und seinem perversen Leben.
Nur noch wenige Minuten bis zum Bett. Aus dem Radio kommt eines dieser Lieder, das täglich fünfmal pro Stunde im Radio läuft. So ein typischer Song, den jeder Taxifahrer dieser Welt am Tag hundertmal hört und von dem er trotzdem weder Titel noch Interpret nennen könnte, geschweige denn die Melodie nachpfeifen. Weil er einfach völlig austauschbar ist. Der Song, nicht der Taxifahrer. Es ist eines dieser Liedchen, die man heutzutage in einer Viertelstunde am Computer produzieren und einer hoffnungsvollen Nachwuchssängerin vorsetzen kann, der es scheißegal ist, was sie singt, solange sie damit im Radio läuft. Möglicherweise ist das Taxi soeben über eine rote Ampel gefahren. Oder ich habe es mir nur eingebildet.
Wir sind an der Münchner Freiheit, direkt neben der kunstvoll dort hindrapierten Tramhaltestelle, die aussieht wie ein abgestürztes Raumschiff. Jetzt ist wieder eine rote Ampel vor uns, aber der Taxifahrer bleibt brav stehen. Ich überlege, ob ich den Menschen hinterm Steuer beim Einsteigen eigentlich gesehen habe, aber ich kann mich an kein Gesicht erinnern. Da ich genau hinter ihm sitze, könnte ich nicht einmal sagen, ob er dunkel- oder hellhäutig ist oder Asiate. Weil es mir scheißegal war, wie der Taxifahrer aussieht, als ich am Odeonsplatz eingestiegen bin, weil ich einfach nur noch weg wollte von allem. Reflexhaft fährt meine Hand in die Tasche meines Mantels, wo irgendein noch funktionstüchtiger Teil meines Gehirns einen Geldschein vermutet, und tatsächlich habe ich einen Zwanzig-Euro-Schein in der Hand. Ich sage dem Taxifahrer, dass ich hier an der Ampel aussteige und frage ihn, wie viel ich zahlen muss. Er antwortet nicht, und ich bekomme Angst, dass er mich nicht herauslässt. Dass er mich einsperrt und mitnimmt in diesem Taxi, irgendwo in eine verlassene Lagerhalle im Norden der Stadt, wo er mich dann umlegt. Vielleicht hat Manuel den Fahrer angeheuert. Darum fährt der also so schnell. Ein angeheuerter Krimineller, der mich kaltmachen soll. Und ich Idiot habe mich in die Falle locken lassen. Hallo, sage ich noch einmal. Dabei hatte ich den Menschen ja schon beim Einsteigen begrüßt. Aber ich sage immer hallo, wenn ich mich bemerkbar machen will, obwohl das ja völlig unsinnig ist. Mit der rechten Hand versuche ich vorsichtig, mich abzuschnallen. Dann ertönt eine tiefe Stimme von vorne und nennt die Summe von elf Euro. Er dreht sich um, ein Afrikaner mit so dunkler Haut, dass ich im matten Licht, das die Leopoldstraße von draußen hereinwirft, die Konturen seines Gesichts kaum erkennen kann. Ich halte ihm den Zwanziger hin und sage: Fünfzehn. Die Ampel wird grün, aber um diese Uhrzeit sind nicht viele Autos unterwegs. Er kramt langsam und bedächtig nach dem Wechselgeld. Plötzlich hupt doch jemand hinter uns. Ich denke mir, dass das verdammte Arschgesicht doch einfach auf die rechte Spur und an uns vorbeifahren kann, das kann doch nicht so schwer sein. Die Leopoldstraße ist breit wie ein Fußballfeld, und um die Uhrzeit fast komplett frei. Dem Taxifahrer ist es offenbar scheißegal, dass hinter uns jemand hupt, während er, beziehungsweise sein Taxi, mitten auf der Leopoldstraße steht und er in aller Seelenruhe nach einem Fünf-Euro-Schein zum Wechseln kramt. Ich blicke rechts aus dem Fenster und sehe ein paar Gestalten an der Tramhaltestelle. Sie schauen zu uns herüber, vielleicht fragen sie sich, was da gerade vorgeht und warum das Taxi einfach stehen bleibt, obwohl die Ampel längst grün ist. Dabei geht es sie einen Scheißdreck an. Ich bin unsagbar müde. Eine dunkle, große Hand bewegt sich in meine Richtung, drückt mir einen Fünf-Euro-Schein in die Hand, und eine tiefe Stimme sagt: Danke und eine gute Nacht. Ein freundlicher Mensch, und ich habe mir so einen Blödsinn ausgemalt, das ist ja fast peinlich. Ich bringe vor lauter Scham nur ein einziges Wort hervor, nämlich: Ebenfalls, und dann steige ich aus.
Das Taxi braust davon, und das im wörtlichen Sinn, denn der Taxifahrer gibt wieder Vollgas. Ein wenig wie im Film, nur ohne quietschende und qualmende Reifen. Nach wenigen Sekunden ist er meinem Blickfeld entschwunden, er biegt vorne an der Kreuzung nach rechts in die Ungererstraße ab. Wohin er wohl fährt? Vielleicht zu seiner Lagerhalle im Norden der Stadt, denke ich mir und finde mich selbst gar nicht witzig dabei. Da stehe ich also um halb zwei Uhr nachts auf dem Fahrbahnteiler in der Mitte der Leopoldstraße. Warum ich jetzt genau hier stehe, wo ich doch eigentlich nach Hause wollte, das fällt mir plötzlich nicht mehr ein. Bin einfach ausgestiegen. So etwas nennt man wohl Kurzschlussreaktion. Von hier aus müsste ich noch etwa eine Viertelstunde bis zu meiner Wohnung laufen, was natürlich machbar ist, selbst in meinem Zustand. Aber irgendetwas hindert mich daran, in diese Richtung zu laufen. Ohne einen genauen Plan überquere ich die Leopoldstraße zur Tramhaltestelle. In ein paar der umliegenden Häuser brennt noch Licht. Ob ich einfach auf gut Glück bei jemandem klingeln sollte? Wer zu dieser Zeit noch wach ist, dürfte sich ähnlich verloren fühlen wie ich. Ich könnte einfach klingeln und sagen: Guten Abend. Wobei es ja nicht mehr Abend ist, sondern tiefe Nacht. Ich müsste also eigentlich Gute Nacht sagen, was aber wiederum eine Floskel ist, mit der man sich zum Schlafen verabschiedet. Ach was, ich würde einfach sagen: Hallo, ich habe gesehen dass in Ihrer Wohnung nach halb zwei Uhr noch Licht brennt. Ich habe gerade alle Brücken in meine Vergangenheit abgebrochen, fühle mich entwurzelt und unfassbar müde. Außerdem habe ich mehrere Cocktails und mindestens drei Flaschen Bier getrunken und bin entsprechend angeheitert. Darf ich heraufkommen? Ich meine, was sollte der- oder diejenige am anderen Ende schon sagen außer Nein. Oder vielleicht auch: klar, komm herauf. Dann würden wir uns gegenseitig unser Leid klagen und zu dem Schluss kommen, dass die Welt ein Schimmelpilz ist. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das wirklich so passiert. Ich stehe neben dem Fahrradweg, der um die Tramhaltestelle herumführt. Mein Gott, wie oft ich hier selbst vorbeifahre und mich über die Idioten aufrege, die direkt neben der Radspur stehen und so aussehen, als könnten sie jederzeit direkt vor mir auf die Fahrbahn treten. Jetzt bin ich selber so einer. Ein vollgesoffener, trübsinniger, unerträglicher Trottel bin ich. Ich würde mich ja selbst hassen, wäre das nicht vollkommen sinnlos.
Warum eigentlich bin ich aus dem Taxi ausgestiegen? Wir waren ja schon fast bei meiner Wohnung in der Klementinenstraße. Wie das schon klingt. So edel. Wie eine leckere Frucht. Klementinenstraße. Jetzt stehe ich immer noch hier und starre vor mich hin. Eine Tram fährt um diese Uhrzeit doch nicht mehr, worauf warte ich eigentlich? Ein Mann ist neben mich getreten, ich habe ihn vor lauter dumpfem Dahinstarren nicht kommen gehört und kann auch nur seinen Umriss erkennen. Er fragt mich ob ich Feuer habe. Habe ich. Er bedankt sich, und als er sich mit meinem Feuerzeug seine Kippe ansteckt, können meine müden Augen sein Gesicht erkennen. Er ist mindestens schon sechzig, hat verhärmte Gesichtszüge, und irgendwie sieht er wie ein Penner aus. Aber er stinkt nicht nach billigem Fusel. Sicher, eine leichte Bierfahne geht schon von ihm aus, aber ich brauche jetzt nicht so zu tun, als wäre das bei mir anders. Angst habe ich vor dem Typen nicht. Der wird mich nicht in eine Lagerhalle im Norden der Stadt verschleppen und dort kaltmachen. Nein, der nicht. So einen heruntergekommenen Typen würde Manuel nicht anheuern, um sich an mir zu rächen, weil ich ihm gesagt habe, was für ein Arschloch er geworden ist. Wie ich Manuel einschätze, würde er irgendwelche Kontakte spielen lassen, um Bruce Willis persönlich dazu zu bringen, mich zur Rechenschaft zu ziehen. Yippieyayeah, Schweinebacke, Bumm, das war's. Natürlich würde er das nicht. Manuel hat zwar eindeutig sadistische Züge, ist aber auch ein verkommener Schwächling. Liebe ist für ihn eine Kreditkarte, mit der man sich Dinge besorgt, die man braucht. So ist es. Scheiß Alkohol. Der Mann neben mir hat etwas zu mir gesagt, und ich habe nicht zugehört, was ich auch ehrlich zugebe. Er wiederholt: Ob ich öfters alleine mitten in der Nacht an der Münchner Freiheit stehe und traurig vor mich hinstarre? An dieser Stelle, das ist mir sofort klar, wäre eine Antwort angebracht wie: Ob er das öfters mache, mitten in der Nacht an der Münchner Freiheit Fremde blöd von der Seite anzulabern? Aber wenn es einen Wesenszug gibt, der mich treffend beschreibt, dann ist es der, dass ich praktisch nie das sage, von dem ich denke dass ich es sagen sollte. Stattdessen sage ich immer Sachen, die in jedem Handbuch für höfliche und korrekte Gesprächsführung stehen könnten. Warum eigentlich bin ich nicht in die Politik gegangen? Ich lächle also und sage dem fremden Mann, dass es eher selten vorkommt. Aber an manchen Abenden passiert es einem halt, dass die Dinge nicht so laufen wie man sie sich vorgestellt hat. Und dann steht man an der Münchner Freiheit und grübelt vor sich hin. Ich hoffe, dass diese Antwort seine Neugier befriedigt und er mir nicht noch weitere Fragen stellt. Er soll einfach seine Kippe rauchen und es gut sein lassen.
Der Alte nimmt meine Aussage mit einem Nicken zur Kenntnis. Kenn ich, sagt er. Dann Kunstpause, dann bläst er gekonnt den Rauch in die Nacht hinaus. Der hat sicher schon viel erlebt, denke ich mir. Dann fängt er an zu erzählen, und obwohl ich darauf normalerweise überhaupt keine Lust habe, höre ich ihm zu, denn irgendwie scheint mir der Typ in Ordnung zu sein. Ich hab' zwanzig Jahre lang eine Kneipe betrieben, da hinten in der Feilitzschstraße, sagt er. Dreiundneunzig hab ich zumachen müssen, weil ich’s finanziell nicht mehr gepackt habe. Die große Zeit war da aber auch schon lange vorüber. Weißt du, sagt er, ohne mich anzusehen, dass mal der Bassist von Deep Purple bei mir in der Bar gestanden ist und Whiskey getrunken hat? Und der Drummer von Queen war auch mal da. Mit riesiger Entourage, zehn Leuten mindestens. Aber ohne Freddie Mercury. Der hatte sein Revier ja drüben im Glockenbachviertel, wenn du verstehst was ich meine. Er bläst den Zigarettenrauch in die nächtliche Luft. Selbstverständlich weiß ich, wovon er spricht, und irgendwie ärgert es mich, dass er denkt, ich wüsste nicht, dass Freddie Mercury in den Achtzigern in München gewohnt hat und in der hiesigen Schwulenszene unterwegs war. Das ist nun wirklich kein Staatsgeheimnis. Der Alte fährt fort: Weißt du, ich bin keiner von denen, die nur über die gute, alte Zeit reden und davon, dass heute alles scheiße ist. Das stimmt nämlich so auch nicht. Klar waren die Leute damals anders drauf als heute. Vielleicht waren sie insgesamt offener und hatten mehr Interesse an ihren Mitmenschen. Es gab noch keine Handybildschirme, auf die man schauen konnte, man war viel mehr gezwungen, sich mit den anderen zu beschäftigen. Aber andererseits war das Leben damals auch umständlicher. Unfassbar viele Autos auf den Straßen, die die Luft verpestet haben. Dieser Teil von Schwabing war unerträglich, bevor sie die U-Bahn gebaut haben. Da bin ich schon froh, dass ich das los bin. Aber das Viertel ist trotzdem nicht mehr dasselbe, und das ist schade.
Er spuckt vor sich auf den Boden, und ich überlege, ob ich die Pause nutzen soll, um etwas zu sagen. Aber wie so oft in meinem Leben hindert mich dich Angst, etwas möglicherweise Unpassendes zu sagen, daran, überhaupt etwas Sinnvolles zu sagen. Also brumme ich nur etwas undefinierbares vor mich hin. Der Alte dreht sich leicht nach links und deutet auf das Karstadt-Gebäude an der Kreuzung. Hast du gewusst, sagt er, als mein Blick seinem ausgestreckten Arm folgt, dass da, wo jetzt dieser Riesenklotz steht, mal eine Kneipe war? Nein, nicht meine. Jedenfalls hat Jimi Hendrix da eines seiner ersten Konzerte in Deutschland gespielt. Jimi Hendrix mit Band. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. So etwas wäre heute überhaupt nicht mehr möglich.
Jimi Hendrix. Das hatte ich tatsächlich noch nicht gewusst, und ich bin beeindruckt. Krass, sage ich, und ärgere mich umgehend darüber, dass mir kein besserer Ausdruck eingefallen ist. Der Oberbegriff für die Abgestumpftheit meiner Generation. Alles ist krass. Kaum etwas ist noch großartig, interessant, verblüffend, faszinierend, überraschend, spektakulär oder wenigstens toll. Heutzutage ist alles immer krass. Ja, antwortet er, ohne mich anzublicken. Krass. Er hat seine Zigarette schon fast aufgeraucht. Mir fällt ein, dass ich nicht mal seinen Namen kenne. Seit über zwanzig Jahren gibt es meine Bar nicht mehr, sagt er, ohne mich anzusehen. Und meine Ehe seit neunzehn Jahren nicht mehr. Sie war ja der Meinung, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun gehabt hätte. Aber als ohne die Kneipe das Geld plötzlich nicht mehr so da war, fing sie an, alles an mir schlecht zu finden. Meine Art zu reden, meinen Humor, unsere Gesprächsthemen, die Zigarettenstummel im Aschenbecher auf dem Fensterbrett - alles halt. Sie hat gesagt, ich würde sie vernachlässigen. Das alles kann man für einen Zufall halten. Ich tue es nicht mehr. Sie ist nach Freilassing gezogen, zurück zu ihrer Familie. Einmal im Jahr schreibt sie mir zum Geburtstag eine Postkarte. Da stehen immer die selben vier Sätze drauf. Ich kann sie mittlerweile auswendig. Weißt du, welche Sätze da stehen? Nein, erwidere ich wahrheitsgemäß. Er rezitiert: Lieber Hans, und wieder ist ein Jahr vorbei. Ich wünsche dir Glück und Gesundheit und dass all deine Träume in Erfüllung gehen. Lass dich feiern und genieße die gute Schwabinger Luft. Nur das Beste, deine Sylvia. Kannst du dir das vorstellen, fragt er mich. Mit dieser Person war ich elf Jahre lang verheiratet. Insgesamt habe ich vierzehn Jahre mit ihr mein Leben und das Bett geteilt. In einem Fotoalbum mit den schönsten Augenblicken in meinem Leben wäre sie auf den allermeisten Bildern drauf. Und jetzt schreibt sie mir Jahr für Jahr nichtssagende Postkarten, die sie auch ihrem Cousin siebten Grades in Sibirien schreiben könnte, den sie noch nie in ihrem Leben gesehen hat. Austauschbare Karten mit immer denselben ideenlosen Motiven drauf. Als wäre ich ein völlig Fremder für sie.
Hans, dessen Name ich jetzt kenne, schweigt wieder. Er bläst noch einmal Rauch in den Nachthimmel, dann wirft er seine Zigarette weg. Und du hast sie nie wieder gesehen, frage ich. Nie, sagt er. Einmal war ich kurz davor, raus zu fahren nach Freilassing, und sie zu besuchen. Aber dann dachte ich mir, warum eigentlich. Sie hat unser gemeinsames Leben einfach weggeworfen, sie hat mich hängen lassen, als ich sie am dringendsten gebraucht hätte. Die Gründe dafür werde ich nie ganz begreifen. Diese Anstrengung will ich mir nicht zumuten. Hans blickt mich durchdringend an. Dann fährt er fort: Und jetzt streife ich seit neunzehn Jahren an den allermeisten Nächten durch die Straßen, weil mir daheim sonst die Wände zu nahe kommen. Ich trinke mal hier etwas, mal dort etwas, und versuche, die Menschen zu verstehen. Nur, falls du dich gefragt hattest, warum ich mitten in der Nacht hier an der Münchner Freiheit stehe und mit dir rede. Ich nicke und sage: Jetzt verstehe ich. Vermutlich habe ich mich noch nie so lange mit jemandem unterhalten, der mir völlig unbekannt ist. Was für ein seltsamer Abend. Was für ein seltsamer Monat, und überhaupt ein ziemlich seltsames Leben. Und du, fragt Hans mich unvermittelt, woran hast du zu knabbern. Du stehst doch auch nicht grundlos mitten in der Nacht verloren in Schwabing herum. Ich schaue ihn an, und erst jetzt nehme ich sein Gesicht zum ersten Mal richtig wahr. Er hat wache Augen, so nennt man das wohl. Besoffen ist er ganz sicher nicht, und auch nicht bekifft. So ein typischer Alt-Schwabinger irgendwie, ein wenig verkrachter Künstler, ein wenig überdreht, aber grundsympathisch. Hans könnte wirklich der normalste Mensch sein, der mir seit langem über den Weg gelaufen ist. Aber gut, ich arbeite auch in einer Marketingagentur, da ist die Chance, normale Menschen zu treffen, äußerst bescheiden. Im Vergleich zu meinen Kollegen wäre selbst Gaddafi ein ganz normaler Typ. Lass mich raten, sagt Hans. Vermutlich hat es was mit Frauen zu tun. Glaube mir, ich kenne mich da aus.
Unwillkürlich muss ich lächeln. Naja, sage ich, es hat schon was mit Frauen zu tun. Aber wohl nicht so, wie du denkst. Und weil mir nichts Besseres einfällt, füge ich hinzu: die Geschichte ist irgendwie nichts, was man nachts an der Tramhaltestelle erzählt. Und sofort merke ich, dass ich ihn jetzt nur noch neugieriger gemacht habe. Ha, antwortet er, als ob es darum ginge. Weißt du, ich könnte dir hunderte Geschichten erzählen, die man nachts an der Tramhaltestelle vielleicht nicht erzählen sollte. Er blickt mich an und ich ihn. Zum Beispiel, frage ich. Ich habe mal einen Mord beobachtet, sagte er ganz ernst. Zufällig. Oh, sage ich. Ja, oh, erwidert er. Ich frage ihn, was passiert ist, obwohl ich es eigentlich gar nicht so genau wissen will. Na gut, es interessiert mich schon. Aber Mord, das ist ein Thema, bei dem man als Zuhörer eigentlich nichts richtig machen kann. Ich meine, wie soll man schon reagieren, wenn jemand sagt: Der und der ist tot, dahingemetzelt, ermordet? Wie wohl? Betroffen reagiert man natürlich, und man fühlt sich dann immer ein wenig schäbig, weil man nicht wirklich betroffen ist. Man kannte die Person ja nicht.
Das war vor neun oder zehn Jahren, fängt Hans an zu erzählen. Im Winter. Ich war bei einem der wenigen Leute eingeladen, die nach dem Ende meiner Kneipe noch was mit mir zu tun haben wollten. Der wohnt hinten in der Belgradstraße, Nähe Scheidplatz. Irgendwann nach Mitternacht bin ich rausgekommen aus dem Wohnhaus. Im Hauseingang stecke ich mir eine Zigarette an, da rennt auf dem Gehsteig im Dunkel jemand an mir vorbei, rauf in Richtung U-Bahn, da wo der Luitpoldpark beginnt. Und etwa zwanzig Sekunden später noch einer. Dass der zweite den ersten verfolgt hat, habe ich erst begriffen, als ich selbst auf den Gehsteig getreten bin. Ich wollte ja auch zur U-Bahn. Ich nicke, und Hans fährt fort: Als ich das U-Bahnschild schon sehen kann, höre ich plötzlich einen Schrei. Nicht besonders laut, aber ich habe ihn gehört. In den Häusern ringsum waren die Lichter schon dunkel. Ich renn hin zum Scheidplatz, und da seh ich eine Gestalt in den Park davon rennen. Eine Frau hat geschrien, die kam gerade von der U-Bahn hoch, und dann hat sie mit ihrem Handy die Polizei gerufen. Ja, und dann seh ich auch die Leiche. Die lag da einfach so, frage ich. Hans nickt. Erstochen. Abgestochen wie ein Schwein. Sieben mal. Hans zieht die Schultern hoch, als würde es ihn frösteln. So viel Blut, sagt er. Und dann, frage ich. Was dann, gibt er die Frage zurück. Naja, hast du dann ausgesagt bei der Polizei. Klar hab ich das, erwidert Hans. Aber groß helfen konnte ich da nicht. Hab ja die beiden Figuren nicht erkannt. Die sind ja im Dunkel an mir vorbeigeflitzt. Ob Mann oder Frau, weiß oder schwarz oder Asiate, ob groß oder klein, konnte ich nicht sagen. Wegen meiner Aussage haben die die Sau sicher nicht geschnappt, die den anderen da abgestochen hat. Uff, sage ich. Das ist echt hart. Und ich weiß, dass ich das, was ich zu Hans gesagt habe, ernst meine. Der Tod ist echt hart. So endgültig.
Eine Geschichte von früher fällt mir ein. Warum fällt dir mir jetzt ein, hier an diesem Ort? Ich habe mal, sage ich zu Hans ohne darüber nachzudenken, im Kindergarten fast ein anderes Kind erwürgt. Ich weiß noch, dass ich meine Hände um seinen Hals hatte und zugedrückt habe. Dabei wollte ich ihn gar nicht umbringen. Ich war vermutlich einfach nur sauer oder so. Jedenfalls hat die Kindergärtnerin gebrüllt und mich von ihm weggerissen. Keine Ahnung, was passiert wäre, wenn sie uns nicht getrennt hätte. Du meinst, ob du das andere Kind wirklich erwürgt hättest, fragt Hans. Ich nicke.
Wir stehen ein paar Augenblicke schweigend da. Überhaupt stehen wir jetzt sicher schon seit zwanzig Minuten an der Tramhaltestelle herum. Was sich die anderen paar Gestalten, die hier auf ihren Nachtbus warten, wohl von uns denken? Irgendwie ist mir gerade alles scheißegal. Wenn Hans mir jetzt Kokain hinhalten würde, ich würde es nehmen. Einfach, weil diese Nacht nicht mehr abgedrehter werden kann als sie ohnehin schon ist. Wann hatte ich dieses Gefühl des totalen Freiseins von aller Verantwortung zuletzt? Keine Ahnung. Ich denke an Nora. Ich denke an sie und wie es ihr jetzt geht, wo sie das mit Manuel und Christina erfahren hat. Mit Sicherheit hat sie es erfahren. Beschissen wird es ihr gehen. Und ich denke darüber nach, ob sie an mich denkt. Und ob sie jetzt einsieht, dass sie mit mir die bessere Wahl getroffen hätte. Damals. Du grübelst schon wieder, sagt Hans plötzlich und erinnert mich daran, dass neben mir ein Mann steht, der vermutlich doppelt so alt ist wie ich, den ich bis vor kurzem noch gar nicht kannte und der mir trotzdem vertrauter ist als die allermeisten anderen Leute in meinem Leben. Ja, ich grüble, sage ich zu ihm. Ich frage mich, warum manche Dinge so geschehen. Also, ob es einen Grund dafür gibt, dass manche Dinge sich so entwickeln, wie sie es tun. Und ob die Umwege, die wir manchmal nehmen, also ich meine, die wir nehmen müssen, ob diese Umwege uns trotzdem zum Ziel führen. Hm, macht Hans. Gute Frage. Bist du Philosoph oder was. Wir lachen beide. Nee, sage ich. Nicht mal annähernd. Ich bin einfach einer, dem alles zu viel wird. Und dann beschließe ich, Hans alles zu erzählen, und dann heimzugehen, ins Bett zu fallen, und, sollte ich je wieder aufwachen, ein neues Leben zu beginnen. Vielleicht in Hamburg. Oder ich ziehe gleich an die Nordsee, mit der ich schöne Kindheitserinnerungen verbinde. Es muss doch möglich sein, auf Amrum einen Job zu bekommen, der mir genug Kohle für eine kleine Wohnung einbringt. Und wenn es Verkäufer im Lebensmittelmarkt in Wittdün ist. Das wäre mir scheißegal. Hauptsache, ich habe meine Ruhe und kann auf einer kleinen, schönen Insel an der Nordsee alt werden. Die Vorstellung kommt mir so genial vor, dass ich grinsen muss.
Hinter uns hat sich ein weiterer Mann angeschlichen. Bevor ich ihn sehen kann, rieche ich seine Fahne. Eine heisere Stimme fragt uns nach Kleingeld. Ich drehe mich um und sehe einen von den armen Teufeln, die man nachts an gewissen Orten in der Stadt öfters antrifft. Einer von der blödgesoffenen Sorte. Kann sich nicht mehr artikulieren, schläft tagsüber seinen Rausch aus und lötet sich Abend für Abend mit Schnaps die letzten Erinnerungen an ein irgendwie geartetes Dasein vor dem Säuferleben weg. Einer von der Sorte, die verzweifelt den Anschein aufrecht erhalten wollen, sie wären noch zu gängiger sozialer Interaktion oder gar zu Kommunikation in der Lage, obwohl ihre Zungen ihnen schon längst nicht mehr gehorchen. Ich schüttele den Kopf. Dem will ich kein Geld geben. Hans sagt: Ist schon recht, Schorsch. Jetzt nicht. Geh da rüber und frag die. Der Alki starrt Hans ein paar Sekunden lang an, nickt ganz langsam und wankt dann zu einer Gruppe Studenten rüber, die ihn mit Sicherheit ignorieren werden. Lass ihn, sagt Hans zu mir. Der ist harmlos. Wir blicken auf die Leopoldstraße, wo nur noch vereinzelt Autos durchrauschen. Ob mein Taxifahrer von vorhin noch unterwegs ist? Vermutlich ist seine Schicht schon zu Ende und er ist daheim bei Frau und Kind, nicht ohne sich fest vorzunehmen, ihnen gleich morgen von dem seltsamen Fahrgast zu erzählen, der mitten auf der Leopoldstraße aussteigen wollte.
Ich fange einfach an zu erzählen, in dem festen Wissen, dass Hans mir zuhört. Pass auf, sage ich. Es gibt da zwei Leute in meinem Leben, die ich schon ewig kenne. Manuel und Nora. Manuel kenne ich, glaube ich, seit der Grundschule schon, wir sind später gemeinsam aufs Gymnasium gegangen und immer befreundet geblieben. Nora kenne ich ebenfalls seit der siebten Klasse oder so. Sie hat mit uns zusammen Abi gemacht. Beide, Manuel und Nora, sind dann auch nach München gezogen, um zu studieren. So sind wir immer in Kontakt geblieben. Und außerdem waren Manuel und Nora seit unserer Abifahrt nach Spanien zusammen. Das hatte sich schon vorher abgezeichnet, weil sie immer mehr miteinander rumhingen in der Schule, du weißt schon, so harmlose Flirts, die irgendwann ernster wurden. Und da, in dieser üblen Touristendisco irgendwo in so einem fiesen Ballermann-Kaff an der Küste, da hat es dann gefunkt zwischen ihnen. Beziehungsweise, da hatten sie dann endlich einen Alkoholpegel erreicht, der jede Hemmschwelle beiseite geräumt hat. Sie sind gar nicht mehr voneinander losgekommen an dem Abend. Das hat mich für sie beide ehrlich gefreut. Obwohl ich selbst in Nora verknallt gewesen war. Im Grunde war ich es seit der zehnten Klasse. War sie hübsch, fragt Hans dazwischen. Was heißt war, erwidere ich. Sie ist es immer noch, heute noch viel mehr als damals. Jetzt ist sie achtundzwanzig und eine tolle, selbstbewusste Frau. Du solltest sie sehen. Sie arbeitet bei der Stadt im Kulturreferat. Organisiert Lesungen, Ausstellungen und so Zeug. Sie ist unglaublich schön, aber darüber hinaus auch gebildet, belesen, einfach alles. Hans nickt. Ich fahre fort. Jedenfalls habe ich das Manuel gar nicht übel genommen, dass er Nora bekommen hat und ich nicht. Wir waren Freunde, und ich hab ihnen ihr Glück ehrlich gegönnt. Jetzt halte dich fest: Acht Jahre waren die beiden zusammen. Immer verliebt, immer glücklich. Sie haben gemeinsam das Studium durchgezogen. Diverse Auslandssemester haben sie getrennt voneinander verbracht und sind trotzdem nie fremdgegangen. Zumindest soweit ich weiß. Die beiden waren echt immer das perfekte Paar, und für uns alle war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sie heiraten und Kinder in die Welt setzen. Es gab einfach keine andere Möglichkeit. Doch dann die Trennung, wirft Hans an dieser Stelle ein und kratzt sich am Kinn. Der Kerl hat ein Timing, fabelhaft. Genau, sage ich und nicke. Vor einem Jahr. Seitdem habe ich Nora kaum noch gesehen. Ein paar Mal sind wir uns zufällig über den Weg gelaufen, und natürlich haben wir uns über das Ende ihrer Beziehung unterhalten. Sie war klarerweise völlig fertig. Denn wenn so eine lange Beziehung in die Brüche geht, dann leiden zwangsläufig die Freundschaften drunter, verstehst du? Sie wusste ja, dass Manuel und ich seit jeher beste Freunde waren, und dass ich gewissermaßen gezwungen war, mich auf seine Seite zu schlagen. Aus Manuels Sicht war natrülich sie daran schuld, dass es zu Ende gegangen ist. Weil sie angeblich noch keine Kinder wollte. Weil sie lieber Karriere machen wollte. Wie gesagt, sie hat einen ziemlich guten Job. Nora behauptet aber, das ist totaler Schwachsinn. Liebend gerne hätte sie Kinder haben wollen, und zwar jetzt und sofort. Aber mit Manuel wäre das nicht mehr gegangen. Er ist einfach zu einem Idioten geworden, sagt sie, hätte sie zunehmend wie Luft behandelt, oder noch schlimmer, wie ein kleines, dummes Kind.
Jetzt stell dir vor, sage ich und ziehe Hans dabei am Ärmel seiner Sommerjacke, diese ganze grauenhafte Vorwurfs-Scheiße muss ich seit einem Jahr ertragen. Hauptsächlich von Manuel, mit dem ich mich monatelang einmal die Woche in verschiedenen Kneipen auf ein paar Biere getroffen habe. Er hat sich bei mir ausgeheult, immer und immer wieder. Immer ging es nur um Nora, immer nur um sie. Als ob die Welt aufgehört hätte, sich zu drehen, nur weil es zwischen ihnen in die Binsen gegangen ist. Versteh mich nicht falsch, Manuel war schon immer mein bester Freund. Was wir zusammen durchgemacht haben als Kinder, das wird uns niemand mehr nehmen. Fußballverein, Dorfdisco, später Campingausflüge mit dem Roller nach Österreich, einmal ein Urlaub in Kroatien, die ganze Palette an Kumpels-Kram haben wir gemacht. Aber nach einiger Zeit ist mir dieses ständige Lamentieren so auf den Sack gegangen, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. Was hast du gemacht, fragt Hans. Ich habe angefangen, Ausreden zu erfinden, damit ich mich nicht mehr so oft mit ihm treffen musste, antworte ich. Schlimm, ich weiß. Aber ich konnte es nur noch schwer ertragen, immer nur über Nora reden zu müssen und über nix anderes mehr. Noch dazu, weil sie ja nicht nur ihm viel bedeutet hat, sondern auch mir. Verstehe ich, murmelt Hans.
Ich fahre einfach fort: Also, jetzt komme ich langsam zum Kern der Geschichte. Vor etwa einem Monat konnte ich dann doch nicht mehr anders als mich mal wieder mit Manuel zu treffen. Das wäre sonst mit meinem schlechten Gewissen nicht mehr zu vereinbaren gewesen, ich hatte ihm davor schon drei- oder viermal am Stück abgesagt. Wir waren dann also was trinken, sogar hier in der Nähe, da hinten im "Vereinsheim". Und du musst dir jetzt vorstellen, dass Manuel plötzlich mit einem breiten Grinsen durch die Tür kommt. Zuvor war er monatelang nur noch mit nach unten gezogenen Mundwinkeln durch die Stadt gelaufen, und jetzt das. Ich dachte schon, zwischen ihm und Nora wäre wieder alles gut. Aber von wegen. Er hatte auch keine andere Freundin gefunden. Das nicht. Aber beim Einkaufen war ihm eine andere gemeinsame Bekannte zufällig über den Weg gelaufen, nämlich Julia. Das ist so eine BWLerin, die ich nie recht leiden konnte, ziemlich affektiert. Jedenfalls hat sie immer noch Kontakt zu Nora, und deswegen konnte sie Manuel eine Story auftischen, die so abstrus ist, dass ich zuerst dachte, er will mich verarschen.
Ich mache an dieser Stelle eine kleine Kunstpause, um abzuschätzen, ob ich Hans schon langweile. Soll ich fortfahren, frage ich. Natürlich, sagt er. Es war nämlich so, setze ich meine Erzählung nach einem kleinen Räuspern fort, dass sich Nora ebenfalls nach einer Schulter zum Ausheulen umgesehen hat. Ich kam dafür leider nicht so recht in Frage. Ich hätte es aber natürlich sofort gemacht. Sie kam wohl irgendwann auf die Idee, bei dem Kerl anzurufen, mit dem sie vor langer, langer Zeit, bevor sie mit Manuel zusammen war, mal was hatte. Nach neun Jahren. Ihr Ex hieß Christian und lebte, das hat sie übers Internet rausgefunden, auch in München. Sie hat ihm eine Mail geschrieben, und er hat sofort geantwortet, und dann haben sie sich getroffen. Aber dann… ich überlege, wie ich es am besten erzählen soll, damit Hans nicht glaubt, ich hätte ein Rad ab. Was war dann, fragt er. Mittlerweile ist außer uns fast niemand mehr an der Tramhaltestelle. Auch der blödgesoffene Schorsch ist verschwunden, vermutlich hat ihm jemand ein bisschen Geld gegeben, damit er sich am 24-Stunden-Kiosk einen Schnaps kaufen kann. Naja, sage ich, sie hat im Café auf ihn gewartet, aber es kam nicht Christian zu dem Date. Sondern Christina.
Hans schaut mich verständnislos an. Noras Ex-Freund hat eine Geschlechtsumwandlung machen lassen. Er ist jetzt eine sie und heißt Christina, erkläre ich mit leiser Stimme. Nicht wahr, sagt Hans. Doch, erwidere ich. Und das hat sie nicht gewusst, fragt er. Nein, hat sie nicht. Sie war fest davon ausgegangen, ihre Jugendliebe wieder zu treffen. Stattdessen kam eine Frau, die sie schwesterlich umarmt hat und sich bei ihr bedankt hat. Wofür denn bedankt, will Hans wissen. Naja, sage ich, scheinbar ist Christian, oder besser gesagt Christina, der Ansicht, dass erst das Ende der Beziehung zu Nora es möglich gemacht hat, dass sie ihre wahre, weibliche Seele erkennt. Frag mich nicht, wieso. Ich weiß das ja alles auch nur aus dritter Hand. Jedenfalls, ich war natürlich total baff, als mir Manuel das alles erzählt hat. Er war wie aufgedreht, er hat sich so an Noras Unglück geweidet, dass es fast schon jämmerlich war. Ich meine, stell dir mal vor, wie sie sich gefühlt haben muss. Ihr Ex-Freund ist eine Frau geworden, da muss sie sich doch die Frage stellen, ob das nicht vielleicht etwas mit ihr zu tun hat. Also, ob sie als Freundin nicht gut genug war und ob ihr Ex nicht vor lauter Enttäuschung das Ufer gewechselt hat. Hans kichert ein wenig, ich auch. Ich gebe ja zu, sage ich, dass ich mich von Manuels guter Laune habe anstecken lassen. Wir haben an dem Abend viel getrunken, um die verrückte Story irgendwie verarbeiten zu können. Und da haben wir dann auch viel Blödsinn geredet. Manuel meinte zum Beispiel, vielleicht sollte er ja versuchen, Christina aufzureißen, um Nora eins auszuwischen. Also, dass er ihr den Ex-Freund ausspannt sozusagen. Fanden wir in besoffenem Zustand lustig. Vor allem die Vorstellung, dass sie untenrum noch nicht völlig operiert ist, wenn du verstehst. Mein Gott, waren wir dämlich. Besoffen und unsagbar dämlich. Aber was ich mir nicht hätte träumen lassen… ich weiß schon wieder nicht, wie ich weiterreden soll. Ich wünsche mir, dass Hans wieder den Faden aufgreift und selbst das in Worte fasst, was so grotesk ist, dass ich es eigentlich gar nicht will.
Manuel hat es wirklich gemacht, sagt Hans. Er hat sich an Christina herangemacht. Ich muss lachen, weil er völlig Recht hat. Und weil es so lächerlich ist. Ja, rufe ich so laut, dass sich die Köpfe der wenigen Passanten zu uns umdrehen, er hat es gemacht. Heute Abend haben wir uns wieder getroffen, und er hatte sie dabei. Wir waren in so einer schicken Bar vorne in der Theatinerstraße, und schon das hätte mich stutzig werden lassen sollen, weil Manuel so etwas ansonsten nie vorschlägt. Und dann kommt er da rein, mit der Frau im Schlepptau. Und er sagt zu mir: Darf ich vorstellen, das ist Christina. Und er bestellt für sich und für sie jeweils einen Hugo. Das Zeug hasst er normalerweise, und jetzt tut er so, als wäre es das erlesenste Getränk auf Erden. Verstehst du, er verhält sich wie eine Karikatur seiner selbst. Er lässt den Theaterschauspieler nur so heraushängen. Er kommt allen Ernstes mit einer Transsexuellen in die Bar rein, die er planmäßig und nur zu dem Zweck aufgerissen hat, um seiner Ex-Freundin weiter Salz in die Wunde zu streuen und sich an ihrem Schmerz zu laben. Und dann turtelt er vor meinen Augen mit ihr herum. Und macht ihr die tollsten Komplimente für ihren Mut, sich entgegen aller gesellschaftlichen Normen zu ihrem wahren Ich zu bekennen. Lobt ihre Stärke, bewundert ihre Ausdauer auf dem weiten Weg. Ich dachte, ich muss kotzen. Ich hatte das Gefühl, ich verliere den Verstand.
Wie ist sie denn so, fragt Hans. Wer, frage ich zurück. Christina, sagt er. Ach so. Ja, sie ist eigentlich nett. Wenn man nicht wüsste, dass sie mal ein Christian war … man merkt es noch ein wenig an der Stimme. Und dass sie recht groß ist. Aber ansonsten sieht sie eigentlich wie jede normale Frau aus. Zurückhaltend und elegant. Stilvoll gekleidet. Eigentlich viel zu gut für einen wie Manuel, sie hätte einen richtigen Seelenverwandten verdient und nicht so einen Scheißkerl, der ihr weiß Gott was ins Ohr geflüstert hat. Sie kann nichts dafür, dass Manuel so ein verdammtes Arschloch ist. Ich denke, sie liebt ihn tatsächlich. Eigentlich tut sie mir ein bisschen leid, denn für ihn ist sie eine Kuriosität, an der er sich ergötzen kann, um damit einer ganz anderen Person Leid zuzufügen. Und du bist dir sicher, fragt Hans, dass er sich nur mit dem Hintergedanken an diese Christina rangemacht hat, seiner Ex eins auszuwischen. Natürlich, rufe ich laut und spüre den ganzen Zorn von vorhin wieder in mir hochkochen. Den Zorn, den ich im Taxi eigentlich schon abgestreift hatte. Jetzt ist alles wieder da, die Wut auf Manuel, die Wut auf die Welt und auf mich. Wie spät ist es jetzt eigentlich? Wie lange stehe ich schon mit Hans hier am hässlichsten Ort, den Schwabing zu bieten hat? Verdammt, ich will heim ins Bett. Will nur noch ausschlafen und morgen als jemand anders aufwachen.
Was hast du dann gemacht, fragt Hans. Ich schaue irgendwo hin und sage halblaut: Ich habe Manuel gesagt, dass er ein gottverdammtes Arschloch ist. Ich habe ihm gesagt, dass ich vollkommen verstehen kann, warum Nora ihn nicht mehr haben wollte. Und dann habe ich zum ersten und einzigen Mal das Wort an Christina gerichtet und ihr gesagt, dass Manuel und sie einiges gemeinsam haben. Nämlich die Ex-Freundin. Dann habe ich Manuel sinngemäß gesagt, dass er sich nie wieder bei mir melden braucht. Und dass ich ihn umbringe, wenn ich mitbekomme, dass er Nora noch einmal zu nahe kommt. Wie er geschaut hat! Umbringen, hat er gefragt. Ja, umbringen, habe ich gerufen, bin aufgestanden und am Odeonsplatz in ein Taxi gestiegen.
Wir schweigen beide. Hans sagt: Gut, du hattest recht. Das ist tatsächlich eine Geschichte, die man mitten in der Nacht an einer Tramhaltestelle nicht oft zu hören bekommt. Wir lachen kurz auf. Und jetzt, fragt er. Woher soll ich das wissen, würde ich am liebsten zurückfragen. Ich bin doch selbst nur ein Abziehbild. Aber ich mache es nicht. Stattdessen zucke ich mit dem Schultern und sage: Jetzt gehe ich wohl nach Hause und schlafe. Und hoffe, dass ich irgendwo anders von vorne anfangen kann. Du willst wegziehen, fragt er. Ja, sage ich, das wäre wohl das Beste. Und was ist mit Nora, fragt er wieder. Was soll mit ihr sein? Hast du sie angerufen, will Hans wissen. Wenn nicht, solltest du das tun. Und was soll ich ihr denn erzählen, frage ich. Wie wäre es mit all dem, was du mir jetzt erzählt hast. Ich könnte mir vorstellen, dass sie an deiner Sicht der Dinge interessiert ist.
Jetzt stehe ich da und weiß tatsächlich nichts auf die Ausführungen des alten Mannes zu erwidern. Dabei will ich gar nicht ausschließen, dass er Recht hat. Aber ich bin müde und will nicht darüber nachdenken, was sein könnte. Natürlich gefällt mir der Gedanke, morgen früh und von da an jeden Tag neben Nora aufzuwachen. Aber was soll sie mit einem wie mir? Ich weiß nicht, sage ich zu Hans. Das überlege ich mir noch. Du solltest es machen, sagt Hans. Vielleicht, sage ich. Jetzt gehe ich aber mal lieber heim. Er sagt nichts, streckt mir nur seine Hand hin und schüttelt sie. Dann sagt er: Man sieht sich. Ja, antworte ich, hoffentlich. Gute Nacht. Und Danke fürs Zuhören. Er nickt. Ich drehe mich um, orientiere mich kurz und gehe dann die Leopoldstraße entlang nach Norden. Kann das sein, dass es da hinten am Horizont schon hell wird? Verflucht, wie lange bin ich da neben Hans gestanden? Und hat Christina jetzt eigentlich noch ihren Penis oder nicht? Ich gehe die Straße entlang, und gerade als ich in die Ungererstraße abbiegen will, bleibe ich einfach abrupt stehen. Hole das Handy aus der Tasche, suche im Telefonbuch nach dem Eintrag "Nora" und drücke auf die Wähltaste.
(c) 2016 Mark Read