Einhundertundzwölf Säcke Reis

Als ich neulich meine Wohnung verließ, traf ich im Treppenhaus auf eine ältere Dame, die ein Stockwerk über mir wohnt. Man kennt sich, sie grüßt mich immer freundlich, was vermutlich zwei Gründe hat. Erstens sehe ich mitteleuropäisch und brav aus und zweitens belauschte sie mich einst bei einem Telefongespräch, das ich vor dem Hauseingang mit einem Freund aus meinem Heimatdorf führte. Seitdem weiß sie, dass ich bayrisch kann und dass München doch noch nicht ganz verloren ist.
Besagte Dame gehört zu dem bemerkenswerten Menschenschlag, der genau spürt, wenn sein Gegenüber es eilig hat, und der diese Situation mit präziser Grausamkeit für belanglosen Smalltalk nutzt, in dem Wissen, dass es höchst unhöflich und moralisch verwerflich wäre, wenn man sie abwimmelt oder gar komplett ignoriert. Menschen mit dieser speziellen Fähigkeit bekleiden entweder höchste Staatsämter, oder sie beherrschen zumindest die Gänge und Treppen in den Mietshäusern deutscher Städte.

An diesem Tag jedoch konfrontierte mich die renitente Dame anstatt mit Smalltalk mit knallharten Fakten. Es ging um meine direkten Nachbarn – zwei junge Männer, die sich eine Wohnung teilen und nun, da der Frühling anbrach, zwei Campingstühle auf den schmalen Außengang gestellt hatten, um nach Feierabend noch ein paar letzte Sonnenstrahlen zu tanken und dabei das Leben zu genießen. Auch hier gilt: Man kennt sich, ich grüße sie, sie grüßen mich freundlich zurück, was vermutlich zwei Gründe hat. Erstens bin ich keine renitente ältere Dame, und zweitens belauschten sie mich einst bei einem Telefongespräch, das ich vor meiner Wohnung mit meiner Mutter führte. Seitdem wissen sie, dass wir alle im selben Boot sitzen.

Das könne doch nicht sein, sagte meine Nachbarin erbost und deutete mit den Händen auf undefinierbare Punkte im Treppenhaus. Das dürfe doch nicht angehen. Die Stühle auf dem Außengang verstießen gegen sämtliche Brandschutzregelungen. Das sei hochgradig gefährlich. Sie an meiner Stelle hätte sich schon längst beim Hausbesitzer beschwert, schließlich sei ich doch als direkter Nachbar der beiden direkt betroffen. Also unmittelbar betroffen. Ob mich das Verhalten dieser Leute nicht fürchterlich aufrege. Sie sei jedenfalls über alle Maßen erzürnt und wundere sich doch sehr, dass mich die Sache bis jetzt so kalt gelassen habe. Und überhaupt, sie habe da neulich, rein zufällig, durch die Glastür aus dem Treppenhaus heraus die beiden Männer miteinander schmusen sehen. In aller Öffentlichkeit. Und das ginge ja nun wohl auch nicht. Da müsse man doch auch an die Hausgemeinschaft denken, oder etwa nicht?

Tatsächlich war mir der Gedanke, dass es sich bei den beiden übrigens ausnehmend höflichen jungen Männern um ein schwules Pärchen handeln könnte, noch gar nicht gekommen. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer stand mir der Grund hierfür vor Augen. Weil die Tatsache an sich nämlich im Grad ihrer absoluten Wurschtigkeit kaum in Worte zu fassen war. Weil es mir komplett egal war. So egal wie ein Schneesturm im Winter. So egal wie ein neues Bon-Jovi-Album. So egal wie die nächste gehypte ultra-hippe Netflix-Serie aus den USA. So egal wie ein Buch von Thilo Sarrazin. So egal wie…
…ich dachte an einen Sack Reis. Einen großen, prall gefüllten Sack Reis. Ich dachte an noch einen Sack Reis, der direkt neben dem ersten stand. Und an noch einen. Nun hatte ich schon drei Säcke Reis vor mir, doch ich dachte an noch weitere. Fünf Säcke Reis. Neun Säcke. Vierzehn. Fünfzig. Einhundertundzwölf. Ja, ich dachte an einhundertundzwölf randvoll gefüllte, in einer Reihe aufgestellte Säcke Reis. Und dann sah ich sie umfallen. Zunächst neigte sich der erste Sack ganz langsam zur Seite, dann tat die Schwerkraft ihr Werk und riss ihn um. Es folgte der nächste, und dann noch einer und noch einer und noch einer. Ich hörte die Geräusche all dieser Säcke Reis, wie sie auf den Boden aufschlugen, eine Art lautes "Pflatsch", gefolgt von einem leisen Klackern und Klickern, als sich ihr körniger Inhalt über den Boden verteilte. Ja, ich sah den Boden einer riesigen Turnhalle vor mir, durch und durch mit Reiskörnern übersät, die aus einhundertundzwölf umgefallenen Säcken herausgekullert waren, eine vermutlich durch das Missgeschick eines Einzelnen ausgelöste Reiskatastrophe.

Und dann dachte ich auch noch an eine Gruppe Chinesen. Ich sah sie dastehen, neben den umgestürzten und komplett entleerten Reissäcken, neben diesem auf wundersame Weise entstandenen Reissee. Und ich sah, wie sie sich kurz anblickten, mit den Schultern zuckten und davongingen.

Als mich die ältere Dame also im Treppenhaus fragte, ob ich mich nun nicht beim Hausbesitzer über die beiden unerhörten Männer in der Wohnung neben mir beschweren wolle, da sagte ich weder Nein noch Ja. Ich erwähnte nicht die absolute Wurschtigkeit ihrer Erste-Welt-Probleme im Vergleich zu den Nöten, die alleine in dieser Stadt tausende Menschen jeden Tag erlitten, ganz zu schweigen von den Dramen, die sich in anderen Ländern abspielten. Ich vermied auch die Namen Bon Jovi und Thilo Sarrazin. Ich sagte nur: "Reis".

Das verstand die gute Frau nicht, und ich kann es ihr nicht verdenken. Aber immerhin waren wir jetzt quitt.


Bild: Elle / flickr.com (CC BY-SA 2.0)