Im Pantheon
Ich konnte nicht sagen, wie ich an den Ort gekommen war. Aber das haben Träume so an sich. Man ist einfach irgendwo und findet das völlig normal. Dabei wusste ich während des Traumes zunächst nicht einmal, dass es einer war, aber auch das gehört zum Träumen dazu. Jedenfalls befand ich mich an einem mir völlig unbekannten Ort. Ich lag da auf dem Boden, der mir seltsamerweise überaus bequem vorkam. Wie der Raum genau aussah oder wie groß er war, konnte ich nicht erkennen, denn nur der Tisch in seiner Mitte war ausgeleuchtet. Ich stand auf und ging auf die Gestalten zu, die an besagtem Tisch saßen.
„Ah, endlich ist er aufgewacht“, sagte Ernest Hemingway, als er mich erblickte. Oh, Hemingway ist hier, dachte ich, wie nett. Es überraschte mich nicht sonderlich, dass ein Nobelpreisträger mich erkannte und scheinbar sogar erwartete. Im Gegenteil, da es ein Traum war, antwortete ich meinem berühmten Gegenüber sogar reichlich frech. „Seit wann sind wir per du?“ Hemingway verzog den Mund hinter seinem weißen Vollbart zu einem breiten Grinsen. „Höchst vergnüglich“, bemerkte der neben ihm sitzende Arthur Schnitzler, der sich rein bartmäßig hinter seinem Nachbarn kaum verstecken musste. In den fast 83 Jahren seit seinem Ableben hatte seine Gesichtsbehaarung nichts von ihrer Stattlichkeit eingebüßt. Langsam begann ich zu mutmaßen, dass dies alles nicht real sein konnte. Daher beruhigte es mich, einen Experten der Traumdeutung wie Schnitzler hier zu wissen. „Ist das hier eine Neuauflage der ’Traumnovelle’?“, fragte ich den studierten Arzt, woraufhin Schnitzler in ein schallendes Gelächter ausbrach, das ich einer seriösen Person wie ihm so gar nicht zugetraut hätte. „Aber nein, mein junger Freund“, prustete er. „Oder sehen Sie hier etwa einen Maskenball?“.
Ich blickte mich um und konnte tatsächlich keinen Maskenball entdecken, dafür aber Stefan Zweig, der gerade an einer Tasse Tee nippte und mich nicht zu beachten schien. Neben ihm saß Oscar Wilde und lächelte mir aufmunternd zu. „Hat es einen bestimmten Grund, warum ich hier mit Ihnen allen zusammentreffe?“, fragte ich in die Runde. „Na ja, wir sind deine Lieblingsautoren, oder etwa nicht?“, gab Hemingway die Frage zurück. „Zumindest erzählen Sie des Öfteren Ihren Freunden, dass Sie meine Werke mit Vergnügen lesen“, richtete Zweig das Wort erstmals direkt an mich. „Richtig“, sagte ich. „Die ’Schachnovelle’ – ein großartiges Werk. Aber auch ’Angst’ oder Ihre Kurzgeschichten, die sind einfach große klasse. Also wirklich, richtig gut sind die.“ Zweig bedankte sich mit einer Verbeugung, für die er sogar seinen Hut vom Kopf nahm.
„Erst vor wenigen Tagen“ – das war nun wieder Hemingway – „hast du während einer Zugfahrt mein Buch ’Paris – Ein Fest für das Leben’ ausgelesen. Wenn mich nicht alles täuscht, hast du auch ’Der alte Mann und das Meer’ gelesen, und ’Fiesta’, und die Kurzgeschichten über Macomber, den Schnee auf dem Kilimandscharo und so weiter.“
„Naja, das stimmt“, gab ich zu. „Sie alle sind Autoren, die ich seit vielen Jahren mit größter Freude lese. Und natürlich freut es mich, dass wir hier zusammentreffen. Aber sind Sie nicht alle seit vielen Jahren tot?“
„Er hat es immer noch nicht geschnallt“, sagte Hemingway zu den anderen.
„Höchst interessant“, entgegnete Schnitzler, ganz der Analytiker, und strich sich über seinen Bart.
„Das Wesen der Romantik ist die Ungewissheit“, deklamierte Wilde mit Überzeugung.
„Wie bitte?“
Hemingway rollte mit den Augen. „Hör’ am Besten nicht hin. Der Kerl spricht nur in Zitaten.“
„Jedenfalls“, brachte Zweig den Gedanken zu Ende, „befinden Sie sich in einem Traum, mein Freund. Sie schlafen tief und fest im Bette in ihrer behaglichen Münchener Wohnung, träumen nun aber gerade, dass sie mit ihren literarischen Vorbildern an einem Tisch sitzen. Faszinierend, nicht wahr?“
„Wahnsinn“, sagte ich. „Ein Traum, und ich mittendrin. Sieht alles so realistisch aus hier.“
„Weil der Traum die Realität abbildet – oder zumindest unsere Vorstellung davon. Wären Sie geistesgestört, säßen wir hier nicht an einem Tisch in einem echt wirkenden Raum, sondern es würden nackte Engel auf rosa Elefanten reiten“, erklärte Schnitzler.
Insgeheim wagte ich es zu bezweifeln, dass in meiner Wahnvorstellung wirklich nackte Engeln auf rosa Elefanten reiten würden. Doch einer Koryphäe wie Schnitzler widerspricht man nicht. „Gut“, murmelte ich und nahm auf dem einzigen freien Stuhl Platz. „Ich träume also, dass ich mit meinen Lieblingsautoren an einem Tisch sitze. Und nun?“
„Nichtstun ist die allerschwierigste Beschäftigung und zugleich diejenige, die am meisten Geist voraussetzt“, sagte Wilde.
„Oh Mann“, schnaubte Hemingway.
„Ich finde seine Sprüche höchst vergnüglich“, äußerte Schnitzler und genehmigte sich einen Schluck Mineralwasser.
„Wollen Sie vielleicht etwas trinken?“, fragte mich Zweig. „Sie haben hier ein hervorragendes Bier.“
„Der Mojito ist auch nicht ohne“, fügte Hemingway hinzu. „Auch wenn er nicht ganz an den in ’La Bodeguita del Medio’ herankommt.“ Ich ließ mir ein Glas Orangensaftschorle bringen und stieß mit vier Größen der Weltliteratur an. Während ich einen tiefen Schluck aus dem Glas nahm, beschäftigte mich die Frage, ob ein Getränk, das man während eines Traumes trinkt, eigentlich den nächtlichen Harndrang anregt. Außerdem wurde mir klar, dass ich die Chance, die sich mich hier bot, nutzen musste. Wann würde ich das nächste Mal mit Hemingway, Zweig, Schnitzler und Wilde zusammensitzen?
„Darf ich eine Frage stellen?“
„Natürlich, werter Freund. Fragen Sie“, sagte Zweig lächelnd.
„Wenn’s sein muss“, brummte Hemingway.
„Aber gerne doch“, sagte Schnitzler.
„Fragen zu stellen lohnt sich immer - wenn es sich auch nicht immer lohnt, sie zu beantworten“, sagte Wilde.
„Ich halte das nicht mehr lange aus“, murmelte Hemingway und nahm noch einen Schluck von seinem Mojito.
„Also“, setzte ich an, „Was muss ich machen, um ein guter und interessanter Autor zu werden?“. Nachdem ich diese Frage artikuliert hatte, setzte Schweigen ein. Das einzige Geräusch war das Kratzen an den zahlreichen Bärten. „Eine höchst klassische Frage“, sagte Hemingway nach einer Pause. „Macht ihr das mal, Jungs“, sagte er in Richtung der übrigen drei. „Werter Ernest, Sie wissen genauso gut wie wir, dass diese Frage geradezu unmöglich zu beantworten ist“, sagte Zweig. Schnitzler fixierte mich mit seinem stechenden Blick, sicherlich ein Überbleibsel aus seiner Zeit als Mediziner. Ich spürte, wie er mich analysierte, und das bereitete mir Unbehagen.
„Junger Mensch“, begann er, und ich überlegte, ob ich diese Formulierung schon jemals zuvor gehört hatte. „Sie lesen gerne Schriften und Texte aller Art. Das ist schon einmal eine gute Voraussetzung. Sie wissen auch, wie man gut formuliert. Was Ihnen fehlt, ist die Erfahrung.“
„Aber ich schreibe doch viel“, antwortete ich. „Ich arbeite seit vielen Jahren als Redakteur, da schreibe ich fast jeden Tag!“
„Als Journalist, ja. Aber nicht als Autor. Das sind zwei verschiedene Dinge“, sagte Zweig.
„Journalismus ist unlesbar, und Literatur wird nicht gelesen“, fügte Wilde hinzu und erntete dafür sogar von Hemingway ein anerkennendes Kopfnicken.
„Hör mal“, sagte der Amerikaner und beugte sich dabei über den Tisch zu mir. „Ich habe auch mal einige Jahre als Journalist gearbeitet. Musste ich, um Geld zum Leben zu haben. Glaube nicht, dass mich der Job automatisch zu einem besseren Schriftsteller gemacht hat.“
„Sehr richtig, lieber Freund“, unterbrach ihn Schnitzler. „Das wäre ja so, als hätten meine medizinischen Gutachten positive Auswirkungen auf meine Stücke und Dichtungen gehabt. Im Gegenteil!“ Er lachte erneut dröhnend.
„Die Aufgabe des Künstlers ist es, zu erfinden, und nicht, zu registrieren“, gab Wilde noch einen seiner legendären Sinnsprüche zum Besten.
„Verstehe. Ich muss also einfach üben. Schreiben, viel schreiben.“
„So ist es“, sagte Zweig. „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.“
„Oder vom Baum“, sagte Hemingway.
„Können wir sonst noch etwas für unseren jungen Besucher tun?“, fragte der gutmütige Schnitzler.
„Hm“, überlegte ich laut. „Wo ich schon mal hier bin – könnte ich ein Autogramm bekommen?“
Es stellte sich heraus, dass keiner der vier eine Schreibunterlage oder einen Stift hatte. „Beim nächsten Mal sind wir besser vorbereitet“, tröstete mich Hemingway.
„Aber das ist doch ein Traum. Ich kann doch nicht garantieren, dass ich unsere Zusammenkunft noch mal träume, oder?“
„Doch, das geht“, sagte Zweig. „Keine Sorge. Sie sind geistig dermaßen derangiert, dass dies Szenario in ihrem Schlaf mit Sicherheit noch einmal stattfinden wird.“
„Das eigentliche Mysterium der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare“, ließ Wilde vernehmen.
„Seine Zitate passen aber nicht immer zum Thema“, sagte ich in Richtung der anderen drei.
„Wem sagst du das“, schnaubte Hemingway.
Ich leerte den Orangensaft und winkte den vier Männern am Tisch zur Verabschiedung zu. „Beim nächsten Mal lästern wir ein wenig über ’Shades of Grey’ und ’Twilight’!“, rief ich und erntete zustimmendes Gegröhle. Dann stolperte ich über meine eigenen Beine und wachte in meinem Bett auf. Was für ein verrückter Traum, schoss es durch meinen Kopf. Dann merkte ich, dass ich dringend auf die Toilette musste. In meinem Mund war der Nachgeschmack von Orangensaft.