Man mag mich kleinkariert nennen, aber ich finde, zu seinem eigenen Tod sollte man pünktlich erscheinen.

Es gehört sich nicht, das eigene Ableben anzukündigen und dann die Leute warten zu lassen. Neumeier ist jetzt schon zwanzig Minuten überfällig. Zwanzig Minuten, die ich liebend gerne mit etwas Sinnvollerem verbracht hätte als in der Sonne herumzustehen.

Ja, ich war einer von denen, die extra früh am Isarufer waren. Aber ich war natürlich bei weitem nicht der Erste. Dutzende Menschen waren vor mit da, vermutlich standen sie in der Morgendämmerung schon hier, um sich die besten Plätze zu sichern. Und es strömen pausenlos weitere Leute herbei. Sie kommen über die Isarbrücke vom Landtag her, sie kommen aus der Innenstadt und über den Spazierweg am Ufer. Es zieht sie zum Fluss wie die Fliegen zum Tierkadaver. Wie passend für unsere Zeit – alle wollen dabei sein, nur um hinterher sagen zu können, sie seien dabei gewesen.

Neumeier hat die Stelle seines Todes ziemlich genau, ich möchte fast sagen: idiotensicher, beschrieben. Aber wer sich ein wenig auskennt in der Stadt, dem war die Stelle mit den tosenden Wasserwalzen ohnehin ein Begriff. Wenn man sich umbringen möchte, geht man hier auf Nummer sicher. Die Strömung ist sehr stark. Wer oberhalb der Staustufen hineinspringt, wird mitgerissen und nach unten gezogen und überlebt es mit größter Wahrscheinlichkeit nicht.

Wenn man mich fragt, also eine naheliegende Option. Aber wie sie sich alle vor Begeisterung überschlagen haben in den Kommentaren unter Neumeiers Video. Das war schon fast ein wenig peinlich. Ein Tod im Fluss, wie romantisch. Ableben im Einklang mit der Natur. Wow, wie kreativ.

Ich musste mich schon sehr beherrschen, um nicht mit einem gehässigen Satz die Party zu stören. Nicht, dass ich Neumeier seinen Sinn für die richtige Ortswahl absprechen wollte. Aber mir war das ein bisschen zu viel Hype. An dieser Stelle ins Wasser zu gehen ist etwa so kreativ wie einen Strandurlaub in Rimini zu buchen. Es mag Sinn ergeben, aber wer es tut, braucht sich nicht als Vorreiter feiern zu lassen.

Aber egal. Soll der Pöbel doch Neumeier für ein Genie mit Sinn für das Besondere halten. Es sei ihm vergönnt.

Neumeier kann sich gut inszenieren und beherrscht damit eine Fähigkeit, die mir seit jeher fehlt. Ich erkenne das neidlos an. Ich habe oft sein Selbstbewusstsein in Gegenwart anderer Leute bewundert. Kaum zu glauben, dass das alles schon vierzehn Jahre her ist.

Beim Abendessen gestern fragte mich Miriam: „Wie war das eigentlich mit Neumeier und dir?“

„Was meinst du?“

„Wie habt ihr euch kennengelernt, damals? Also, wo hast du ihn das erste Mal gesehen? Weißt du das noch?“

Was für eine Frage. Natürlich weiß ich das noch. Aus dem einfachen Grund, dass ich gerne an die Zeit zurückdenke. Ich habe Neumeier in einem Germanistik-Einführungsseminar über die Literatur im Sturm und Drang kennengelernt. Das passte wie die Faust aufs Auge. Denn Neumeier war Sturm und Drang in Reinform. Ehrlich, man musste dabei gewesen sein: wie er den Dozenten in Grund und Boden geredet hat, war ganz großes Kino. Niemand hatte die Werke besser gelesen als er. Neumeier war eloquent, er war lustig und gleichzeitig streitsüchtig. Er fuhr immer mindestens im vierten Gang. Dank ihm war dieses eigentlich sterbenslangweilige Einführungsseminar ein Quell der Freude.

Ich kapierte sofort, dass wir zwei auf der selben Wellenlänge lagen. Und wer eine Wellenlänge teilt, findet immer zueinander. Es dauerte nicht lange, ehe wir auf den selben Studentenpartys mit den selben Leuten abhingen und viel zu viel Bier tranken. Ein knappes Jahr lang bildeten Neumeier, ich und noch ein paar andere verlorene Geisteswissenschaftler-Seelen eine ziemlich schräge Clique.

Wir trafen uns zwischen Seminaren und Vorlesungen in der Mensa oder in einem der Cafés an der Schellingstraße. Abends versumpften wir in den paar noch nicht gentrifizierten Germanisten-Kneipen. Kippten Biere im Alten Simpl oder dem Türkenhof oder hingen irgendwann betrunken über dem Kickertisch im Tumult.

Und dann war das alles plötzlich vorbei. Warum? Das hat Miriam mich auch gefragt. Tja, im Grunde war eine Frau daran Schuld. Das ist die ganze, banale Wahrheit. Er und ich standen auf die selbe Kommilitonin, und Neumeier war es schließlich, der sie herumkriegte. Aber ehrlicherweise war sein blödes Herumgeknutsche auf der Germanistenparty, direkt vor meinen Augen, nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Er war mir schon in den Wochen davor zunehmend auf den Geist gegangen. Hatte sich verändert. War anstrengend, überdreht und überheblich geworden und hing mit anderen Leuten ab, die ich nicht ausstehen konnte. BWL-Studenten oder Soziologen, jedenfalls  Menschen, mit denen die Wellenlänge überhaupt nicht stimmte. Ich vermute, sie zogen sich gewisse Substanzen in die Nase. Mir war das zu dumm, und das will etwas heißen. Ich war erst Anfang zwanzig und damit in einem Alter, in dem einem fast nichts zu dumm ist.

Wir haben danach nicht mehr miteinander gesprochen und uns spätestens im nächsten Semester aus den Augen verloren. Neumeier verblasste zu einer Erinnerung an eine wilde und irgendwie ziellose Zeit in meinem Leben.

Ich habe irgendwann meinen Abschluss geschafft. Wie genau ich das bewerkstelligt habe, entzieht sich meiner Kenntnis. Zwischendrin war ich mal ein Jahr im Ausland. Nach der Uni bekam ich den Job beim Personalamt der Stadt, den ich heute noch ausübe. Öffentlicher Dienst, ein Sechser im Lotto. Der Job ist langweilig genug, dass ich ihn nicht mag und gleichzeitig nicht so eintönig, dass ich dabei wahnsinnig werde.

Ich habe es gut getroffen – und Neumeier? Was aus ihm wurde, hat mich lange nicht interessiert. Seit seiner Ankündigung im Netz interessiert es plötzlich das ganze Land. Es ist verrückt, wie viele Menschen plötzlich Anteil nehmen an seinem Schicksal.

Aber ich, ich kannte ihn schon davor. Und ich hatte mir schon vor Neumeiers Video klar gemacht, dass ich gerne an unser gemeinsames Jahr zurückdenke.

Denn inzwischen sehe ich so manches anders. Konnte ich danach jemals wieder mit jemandem so gut über Fußball und Musik reden wie mit Neumeier? Nein. Er zählt zu der überschaubaren Zahl an Mitmenschen mit einem wirklich guten Musikgeschmack. Ich erinnere mich, wie wir im Party-Kellergewölbe irgendeines Wohnheims stundenlang über die großen Alben philosophierten: „Bliss, please“. „Superunknown“. „OK Computer.“ Oder das göttliche „The Holy Bible“ der Manic Street Preachers.

Neumeier kannte sie alle. Wusste die Bedeutung hinter den Texten. Trommelte mit den Händen jeden einzelnen Song mit, oder versuchte es zumindest. Denn eigentlich war er komplett unmusikalisch und konnte eine Gitarre nur mit Mühe von einer Harfe unterscheiden. Doch das war egal, denn wenn er Musik schon nicht verstand, so fühlte und liebte er sie.

Das Leben hat uns in unterschiedliche Richtungen geschickt. Vierzehn Jahre später stehe ich mit tausenden anderen am Isarufer und warte darauf, dass Neumeier sich vor unseren Augen umbringt. Schon verrückt irgendwie.

Wieder blicke ich auf die Uhr. War er früher auch schon so unpünktlich? Wir hatten nach unserem Seminar nur noch eine oder zwei Vorlesungen gemeinsam, und wenn er dort zu spät erschien, war er gewiss nicht der einzige. Andererseits ist es ja doch ein Unterschied, ob man zu einer Vorlesung über die bürgerliche Poetik im Biedermeier zu spät kommt oder zu seinem Tod.

Die Maisonne hat sich inzwischen direkt über uns geschoben, so dass ich die Augen zusammenkneifen muss.

Ich höre neben mir eine Stimme halblaut fragen, ob wir hier alle verarscht werden. Ein anderer widerspricht ihm. „Beruhige dich, der kommt schon. Der traut sich gar nicht, zu kneifen. Nicht nach dem Wirbel, den er verursacht hat.“

Ich muss grinsen, weil er Recht hat. Er bezieht sich auf Neumeiers Video, das ihn fast über Nacht zum bekanntesten Gesicht des Landes machte. Titel: „Warum ich mich umbringen werde“. Hochgeladen vor 17 Tagen, bis heute über elf Millionen Mal angesehen.

Es ist irre, wie wenig Neumeier für den Erfolg tun musste. Sein Beitrag bestand im Wesentlichen darin, auf einem Holzstuhl zu sitzen, den Blick starr in die Kamera zu richten und über sein verkorkstes Leben zu reden. Den Rest besorgten wir.

Ich wette, dass jeder in dieser Menschenmenge irgendeinen Satz aus dem Video auswendig nachplappern kann. Viele haben vermutlich den gesamten Wortlaut drauf, so wie ich.

„Ich habe auf die ganze Scheiße keine Lust mehr“. Damit fing Neumeier an.

Und dann weiter: „So viele Menschen haben mich getäuscht. Sie haben mich an die Hand genommen und versprochen, mir den Weg in eine bessere Zukunft zu weisen. In Wahrheit haben sie mich an die Klippe geführt und dann in den Abgrund gestoßen.“

„Ich habe so viele Schläge eingesteckt“, sagte er später. „Jetzt ist es an mir, den letzten Schlag auszuführen. Er wird das schwächste Glied der Kette treffen – mich selbst.“

Eine zitierfähige Aussage jagte die nächste. Die Zeilenknechte bei den Online-Portalen müssen gejubelt haben, weil sie die Sätze nur abtippen und in ihre Artikel einfügen mussten. So gut und pointiert waren die. Leicht verdientes Geld. Kein Wunder, dass das Video durch die Decke ging.

Als ich den Clip zum ersten Mal sah, hatte ich gleich wieder den Neumeier-Sound von damals im Ohr. Also den jungen Neumeier, den aus dem Wohnheim-Partykeller mit der Bierflasche in der Hand. Funken sprühend, voller Eifer, immer an der Grenze zur Übertreibung. Er scheute sich nicht vor großen Begriffen, die bei jedem anderen nach heißer Luft geklungen hätten. Aber nicht bei ihm.

„Das große Finale meines irdischen Daseins ist nur noch ein paar Tage entfernt. Endlich.“

Wie ruhig er dabei in die Kamera blickte. Und wie nüchtern er redete. So als würde er die Wettervorhersage in der Tagesschau ablesen.

Es war alles Scheiße gelaufen für ihn: Freundin weg, Mutter an Krebs gestorben, Job verloren, Leben verpfuscht. Als er sagte, er habe keine Lust mehr zu kämpfen, zweifelte ich keinen Augenblick daran, dass er es ernst meinte.

Ganz am Schluss ließ er den Kopf kreisen, so dass man die Gelenke knacken hörte. Dann ratterte er emotionslos die harten Fakten herunter. Ort: am Isarufer, bei den Staustufen, Datum:  dreiundzwanzigster Mai, 11 Uhr. „Ich springe rein und werde unter das Wasser gezogen, um nie mehr lebend an die Oberfläche zurückzukehren.“ Das waren seine Worte. Danach kurze Kunstpause vor dem Schlusssatz: „Ich ziehe es durch.“

Das Video verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Als hätte jemand ein Ventil aufgedreht, das schon längst hätte entlüftet werden müssen, strömte die Begeisterung über Neumeiers Ankündigung durch das Land. Er war nach drei Tagen bekannter, als es ein dreibeiniger bunter Hund mit einem Diplom in Kernphysik je hätte sein können. Kein Online-Medium, das sein Gesicht nicht als Aufmacher auf die Startseite packte. Sogar die Tagesthemen sendeten einen Beitrag über den Neumeier-Fanatismus im Land.

Ganz ehrlich, Neumeier hätte noch ein zweites Video aufnehmen können, in dem er seinen blanken Hintern in die Kamera hält und drei Minuten lang furzt – man hätte ihn auch dafür gefeiert. Das Verhalten der Leute hatte den Pfad der Rationalität längst verlassen. Sie wollten ihn vergöttern, und nichts vermochte sie daran zu hindern.

Das erinnert mich an Miriams Frage gestern nach dem Abendessen. Ob ich eifersüchtig auf meinen alten Studienfreund und seinen plötzlichen Ruhm sei. Nein, habe ich geantwortet, wieso sollte ich? Klar, Neumeier ist jetzt berühmt. Fernsehteams sind seinetwegen hier. Er wird heute auf allen Sendern zu sehen sein, die Livestreams von dieser Veranstaltung werden das Internet lahmlegen. Wer hätte nicht gerne so viel Aufmerksamkeit? Wer stünde nicht gerne so im Mittelpunkt?

Andererseits, habe ich argumentiert, wird Neumeier davon nichts mehr haben, denn er ist ja dann tot.

„Stimmt auch wieder“, sagte Miriam.

Sie hat Neumeier nie kennengelernt. An dem Abend, als ich Miriam auf einer Party um eine Zigarette anschnorrte, wohlgemerkt als Nichtraucher, spielte Neumeier in meinem Leben schon seit vielen Jahren keine Rolle mehr.

Ich hätte Miriam heute gerne dabei gehabt. Aber sie wollte nicht. Sie kommt mit Menschenaufläufen nicht klar, entwickelt Panik, kriegt Schweißausbrüche. Sie könnte es nicht genießen. Ich respektiere das natürlich, aber ich konnte auch nicht ihr zuliebe ebenfalls daheim bleiben. Wann hat man schon mal die Chance, bei einem solchen Spektakel dabei zu sein? Menschen werden in zwanzig, dreißig, vielleicht hundert Jahren noch darüber reden.

Vorausgesetzt natürlich, der Protagonist erscheint noch. Neumeier ist bereits dreißig Minuten zu spät. Das Isarufer ist inzwischen komplett überlaufen. Die Leute stehen ängst über den Grünstreifen hinaus, blockieren den Fahrradweg und inzwischen auch die Erhardtstraße. Autos können dort schon lange nicht mehr fahren, aber das stört hier niemanden mehr. Die Insassen sind ausgestiegen und haben sich unter die Menge gemischt.

„Komm schon, Neumeier. Komm schon.“ Ich murmele es fast lautlos vor mich hin.

Wie kann er uns nur so lange warten lassen? Irgendwo weiter hinten beginnt jemand zu buhen. Einige andere Männer steigen ein, aber noch lacht die Menge darüber.

Da fällt mir ein Satz ein, den Neumeier einmal zu mir gesagt hat: „Je größer Menschengruppen werden, desto dümmer werden sie“ Ich glaube, es ging um irgendeine rechte Demo in seinem Heimatdorf. Oder redeten wir über gewälttätige Schlägereien bei einem Fußballspiel?

Natürlich haben wir über diese Aussage diskutiert. Ich habe ihm entgegnet, dass es ja nicht nur rechte Demonstrationen gibt. Hatten Neumeier und ich nicht sogar gemeinsam für etwas gutes demonstriert, nämlich für die Abschaffung der Studiengebühren? Waren wir und die tausenden anderen Studenten dann etwa auch dumm?

Neumeier wirkte ab. Natürlich seien nicht alle Menschen in einer großen Gruppe dumm. Aber wenn tausend Leute mit einem durchschnittlichen IQ von 100 zusammenkämen, habe die Gruppe dadurch doch nicht einen IQ von tausend mal 100.

So argumentierte Neumeier. Er konnte einen von den wildesten Sachen überzeugen, selbst wenn sie einer logischen Prüfung nicht standhielten.

„In manchen Situationen ist Logik wie Geld. Es ist schön, sie zu haben, und es macht vieles einfacher. Aber man hat oft mehr Spaß ohne.“ Auch ein Zitat von Neumeier.

Ob er mich noch erkennen würde? Ein einziges Mal haben wir uns nach der Geschichte mit dem Mädchen noch getroffen. Aber auch das ist schon über acht Jahre her und war einem bloßen Zufall geschuldet. Er kam mir in der Türkenstraße entgegen. Ich bemerkte ihn zu spät, ausweichen und Straßenseite wechseln war nicht mehr möglich. Ihm ging es vermutlich genauso.

Wir unterhielten uns etwa zehn Minuten lang, Mensch, das ist ja ein Zufall, wie geht es dir denn, was treibst du denn jetzt so, hast du noch Kontakt zu dem und dem. Die Knutscherei mit dem Mädchen sparten wir aus, war sicher besser so. Neumeier hatte damals gerade einen neuen Job im Marketing angetreten. Nicht als kreativer Texter, was eher zu ihm gepasst hätte. Er verkaufte Werbeanzeigen, beschwatzte Kunden und all das.

Erstaunlich, dass er das so lange durchgehalten hat. Er hat den Job bis letzten Monat gemacht. Dann haben sie ihm gekündigt, zwei Wochen nachdem seine Mutter an Krebs gestorben war. Schwierige Lage auf dem Anzeigenmarkt, blöder Zeitpunkt, aber was will man machen. Nicht schön, aber uns sind die Hände gebunden. Natürlich eine beschissene Aktion seines Chefs, keine Frage.

Wir haben uns damals jedenfalls die Hand gegeben und das Übliche gesagt: vielleicht sieht man sich ja mal wieder, war echt schön, und so weiter. Dann ging ich meines Wegs, und das war das letzte Mal, dass ich ihn gesprochen habe.

Neben mir zeigt ein Typ seiner Freundin noch einmal das Video auf dem Handy. Aus dem Augenwinkel kann ich Neumeier auf dem Display erkennen, und leise höre ich die bekannten Sätze.

„Man hat mir so oft mit der Peitsche die Haut zerfetzt, aber nie habe ich geschrien. Immer habe ich den Mund gehalten, die Zähne zusammengebissen und mir geschworen: Irgendwann wird meine Haut so dick, dass ich eure Peitsche nicht mehr spüre.“

Wieso hat er nicht mehr aus seinem Talent gemacht? Schauspieler hätte er werden sollen, oder meinetwegen auch Politiker. Mit einer solchen Rhetorik, warum nicht? Auf einer Bühne stehen und Menschen mitreißen, das hätte zu ihm gepasst. Jedenfalls besser, als in irgendeiner öden Agentur am Telefon zu versauern.

„Ich habe allen geglaubt. Meiner Freundin, dass sie mich liebt. Meinem Vorgesetzten, dass ich ein geschätzter und wichtiger Mitarbeiter bin. Meiner Mutter, dass sie noch lange für mich da sein wird. Alle haben mich belogen. Auch mein Leben hat mich belogen, als es mir glauben machte, dass es noch eine rosige Zukunft für mich bereithalten würde.“

Wahnsinn, höre ich die Freundin des Typen am Handy sagen. Das ist echt der Wahnsinn.

Achtunddreißig Minuten über der Zeit. Die Maisonne brennt vom Himmel. Weiter hinten sehe ich, wie die ersten Zuschauer das Isarufer wieder verlassen. Enttäuscht und wütend.

Da wird das Gemurmel plötzlich lauter. Die Masse bewegt sich, dreht sich um. Ein Tunnel tut sich auf in der Mitte – und tatsächlich, da ist er. Ich erblicke Neumeier, wie er die Straße in Richtung Flussufer überquert. Man macht ihm Platz, lässt ihn durch, als wäre er der Bundespräsident. Er trägt ein weißes Hemd und eine Jeans, dazu schwarze Schuhe. Er sieht gepflegt aus, offenbar will er einen guten letzten Eindruck hinterlassen.

Sofort gehen rund um mich herum die Handy nach oben. Hunderte Kameras halten drauf und streamen alles, was ab jetzt geschieht, live ins Netz. Die Welt sieht zu, wie Neumeier zielstrebig in Richtung Brüstung geht.

Zwei Fernsehteams bahnen sich mit Körpereinsatz ihren Weg hin zu ihm. Die Kameras stoßen gegen die Köpfe von Zuschauern, ich höre Geschrei und Beschimpfungen. Neumeier ist höchstens fünf Meter von mir entfernt, als ihn ein Reporter einholt. Die Kamera hält drauf, und der Typ mit dem Mikrofon fragt Neumeier, ob er es sich noch einmal anders überlegt habe.

„Nein.“

„Sie wollen sich hier und heute umbringen?“

„Ja.“

„Warum?“

„Das habe ich doch schon gesagt. Sehen sie sich das Video an.“

„Macht es sie nervös, dass all die Menschen hier sind und ihnen zusehen?“

„Nein.“

„Wollen Sie den Zuschauern noch etwas sagen?“

Neumeier hält inne. Er überlegt, er zögert. Und geht dann doch einfach weiter in Richtung Fluss. Der Reporter dackelt ihm hinterher, doch Neumeier ignoriert ihn.

Schließlich hat er das Geländer erreicht. Das Publikum hält respektvoll Abstand. Es kommt mir nicht nur so vor, als würde niemand ein Wort sagen. Es ist tatsächlich so. Nur das Rauschen der Isar ist zu hören. Kann es möglich sein, dass tausende Menschen gleichzeitig die Luft anhalten?

Neumeier blickt hinunter auf den Fluss. Die Sekunden dehnen sich in die Länge, doch endlich dreht er sich um und blickt zu uns. Sein Blick wandert über die Menschenmenge, die sich seinetwegen, und zwar nur seinetwegen, hier versammelt hat.

Für den Bruchteil einer Sekunde sieht er auch in meine Richtung, aber er erkennt mich nicht. Ich bin nur ein Gesicht in einer Masse von tausenden.

Neumeier schluckt. Er fährt sich mit der Hand durch die Haare. Und dann tut er etwas, das ich nicht erwartet hätte: er knöpft sein weißes Hemd auf, so dass seine Brustbehaarung zum Vorschein kommt. Schließlich zieht er das Hemd komplett aus und legt es fein säuberlich auf das Geländer, so als wolle er es nach seinem Sprung in die reißenden Fluten wieder anziehen.

Und dann, endlich, spricht er zu uns, seinen Jüngern.

„Ich werde es tun. Ich ziehe es durch.“ Seine Stimme ist leise und doch klar.

„Jetzt wird es also geschehen.“ Er lacht kurz auf, dann sagt er: „Ich bringe mich um.“

Niemand erwidert etwas. Wieder schweigen mehrere tausend Menschen zur selben Zeit, als hätten sie eine Übereinkunft getroffen. Andererseits, was soll man in einer solchen Situation auch erwidern?

Neumeier starrt in den Himmel und atmet einmal tief ein und aus. Als sein Schweigen unerträglich zu werden droht, dreht er sich wieder in Richtung Fluss. Dann beugt er sich leicht über das Geländer, so dass sein Oberkörper bereits über das offene Wasser ragt.


Genau in diesem Augenblick wird mir eine Sache klar. Ich hätte gerne noch ein paar Worte an ihn gerichtet. Als kleine Abschiedsgeste. Ist das nicht das mindeste, nach all den Jahren, nach unserer Freundschaft? Ich bin einer von wenigen Menschen hier, ja vielleicht der einzige, der Neumeier gut kennt. Oder der ihn zumindest einst gut kannte.

Aber ich mache meinen Mund nicht auf. Vielleicht hält mich die Angst zurück, dass Neumeier mich nicht erkennt und ich am Ende blamiert da stehe. Für alle Ewigkeit abgestempelt als der Wichtigtuer vom Isarufer, der die große Show störte. Ich kann es nicht tun, bin wie erstarrt, verschmolzen im Kollektiv der Zuschauer.

Sämtliche Kameras, die Großen vom Fernsehen und die tausenden kleinen an den Smartphones, warten gespannt auf Neumeiers nächste Bewegung. Plötzlich durchzuckt etwas seinen Körper, ich sehe es ganz deutlich. Er sackt zusammen, als wäre ein Schmerz in ihn gefahren. Richtet sich wieder auf. Und dann zuckt er nochmal. Um mich herum holen die Leute erstaunt Luft. Sie alle erkennen das Selbe wie ich: Neumeier schluchzt. Er kämpft mit den Tränen.


Noch ein drittes Mal durchfährt ihn ein Schluchzen, dann hat er sich wieder unter Kontrolle. Er macht weiterhin keine Anstalten zu springen. Doch worauf wartet er – auf einen Startschuss? Einen Befehl?

„Was war das denn eben?“, höre ich eine Stimme hinter mir sagen.

„Der hat die Hosen voll“, antwortet jemand.

„Nun mach schon“, faucht neben mir ein kahlgeschorener Mann durch die Zähne. „Das zieht sich“, stimmt ein anderer mit ein.

„Ruhig bleiben“, sage ich halblaut zu beiden. „Er weiß genau, was er tut.“

Und das sage ich voller Überzeugung. Ich glaube immer noch daran.

„Hoffentlich“, brummt der erste Mann. „Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

Die Isar rauscht und tost unbeeindruckt weiter. Neumeier glotzt auf die Wassermassen und steht unbeweglich vor dem Geländer. Irgendwo hustet jemand. Eine Frau – oder ist es ein Kind? - lacht laut auf. Gut möglich, dass die Atmosphäre gespannter Erwartung bald umschlägt, wenn Neumeier nicht handelt.

Genau in dieser Sekunde steigt er plötzlich mit seinen Füßen auf die mittlere Sprosse des Geländers. Die Menge raunt. Er ist nun nur noch bis zu den Oberschenkeln gesichert, der Rest seines Körpers schwingt frei über dem reißenden Fluss.

Es ist soweit.

Neumeier dreht sich im Stand zu uns herum, hält sich dabei mit den Händen am Geländer fest. Noch einmal lässt er seinen Blick über die Menschenmenge schweifen. Auf seinen Wangen glitzern Tränen. Sein Mund geht auf und dann wieder zu, so als wären die Worte zu beschämt, um sich nach draußen zu wagen.

„Ich...“, beginnt er schließlich, mit einer brüchigen Stimme, der die Zuversicht von gerade eben völlig abhanden gekommen ist.

„Ich möchte... also...“

„Lauter!“, brüllt irgendwer aus der Menge.

„Ich weiß nicht, ob ich das hier wirklich noch tun will. Ich war vielleicht zu voreilig....“

Innerlich zähle ich mit. Zwei Sekunden, drei, vier, fünf. Dann durchschneidet der erste Schrei die Stille.

„Du sollst springen!“. Die Worte kommen nicht aus einem bestimmten Mund, sie kommen aus dutzenden, vielleicht hunderten Kehlen. Es ist Wort gewordene Entrüstung, Enttäuschung, Wut. Welche Klammer die Menschen hier auch in feierlicher und friedlicher Erwartung gehalten hat – sie ist in ihre Einzelteile zerbrochen.

Ich weiche zurück, unfähig meinen Mund zu öffnen. Ich begreife, was nun passieren wird, und ich möchte damit nichts zu tun haben.


Ein erster Umriss löst sich aus dem Menschenball und stürmt auf Neumeier zu. Weitere folgen. Unförmige Gestalten, deren Gesichter ich nicht erkennen kann, packen ihn an den Schultern. Er versucht sich zu wehren, doch er weiß selbst, dass es sinnlos ist.

Schon oft habe ich mich gefragt: wie schaut ein Mensch in den letzten Sekunden seines Lebens? Jetzt weiß ich es.

Kurz bevor er rückwärts über das Geländer in die Isar gestoßen wird, ist Neumeiers Gesicht eine verzerrte Fratze mit weit aufgerissenen Augen.

Ich höre das Platschen, als Neumeiers Körper ins Wasser der Isar fällt. Die Menge brüllt und jubelt wie im Fußballstadion. Kollektive Ekstase und Erlösung.

Das Geländer über dem Wasser ist vollständig von Zuschauern besetzt, ich habe keine Chance, ganz nach vorne zu kommen. Ich höre von irgendwo her einen Schrei, doch ob er von Neumeier kommt oder von irgendwem aus der hüpfenden und feiernden Menge, kann ich nicht erkennen.

Die beiden Fernsehteams filmen noch einige Sekunden den Fluss. Dabei hat die Strömung Neumeiers Körper längst davongespült. Als sie sicher sind, dass er nicht mehr auftaucht, schwenken sie ins Publikum. Die Reporter schwärmen aus wie Fruchtfliegen im Sommer, um die ersten Zuschauer zu interviewen. Ich werte das als Signal für den Aufbruch. Für mich gibt es  nichts mehr zu sehen.


Auf dem Weg in meine Wohnung denke ich die ganze Zeit an Neumeier. Im Grunde ist es eine Schande. Es war nicht richtig, dass ihn die Meute in den Fluss gestürzt hat.  Das war nicht das, was Neumeier im Sinn gehabt hatte. Es war auch nicht das, was er verdient hatte nach einem solchen Leben.

Natürlich werden das die Leute anders sehen. Während ich durch die Stadt laufe, lese ich auf dem Handy die ersten Artikel. „Er hat Wort gehalten“, lautet eine Überschrift. Darunter sehe ich Neumeiers Rücken, über das Geländer gebeugt. Ein Spektakel sei es gewesen, steht weiter unten. Höhepunkt sei das dramatische Finale gewesen. Seine allerletzten Worte werden nicht erwähnt. Es liest sich so, als sei er freiwillig ins Wasser gesprungen.

Zuhause fragt Miriam mich, wie es war. Obwohl sie es natürlich im Netz mitverfolgt hat und weiß, wie es ausging. Wie soll ich ihr erklären, was mich gerade umtreibt? Sie würde es nicht verstehen. Sie hat sein Gesicht nicht gesehen, als er hinunterstürzte.

„Es war ganz OK“, sage ich.“ Nicht so spektakulär, wie ich gedacht hätte.“ Miriam merkt, dass ich nicht weiter darüber sprechen möchte und lässt mich in Ruhe. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn und schenke mir ein Glas Cola ein.

Im Wohnzimmer krame ich im Regal nach meinen alten CDs. Seit langer Zeit habe ich keine mehr aufgelegt, aber jetzt ist es soweit. Ich betrachte das weiße Albumcover von „The Holy Bible“ und nehme die CD heraus. In meinen Gedanken formt sich ein Satz: Neumeier, alter Freund – das ist für dich.

(c) Mark Read 2023