Mein Lesejahr 2024: Es war nicht alles schlecht
Und wieder ist ein Jahr vorbei. 2024, ein aus meiner Sicht eher anstrengendes als erholsames Jahr. Mit Höhen und Tiefen, wie das bei 365 Tagen nun mal so ist. Und wieder mit Büchern, vielen sogar. Wenn auch weniger als in den beiden Vorjahren, weil: es war eben zuweilen ein anstrengendes Jahr.
2024 starb mein Lieblingsautor Paul Auster. Es kam nicht überraschend, es war vorherzusehen (der Mann war 77 Jahre alt und hatte Krebs) - und doch hat dieser Verlust natürlich mein Lesejahr geprägt. Nur wenige Wochen vor der Todesnachricht wurde ich am Rücken operiert und las während meiner langen Genesung zufällig wieder viele alte Lieblingsromane von Auster. Mitten im zweiten Teil der "New York Trilogie" lief dann die News aus Übersee über den Ticker. Es gibt Zufälle, auf die man gerne verzichten würde. Paul Auster, ein beeindruckender Mensch, brillanter Autor (selbst in seinen weniger guten Romanen) und bedeutender Intellektueller, dessen Stimme im Amerika der Ära Trump 2.0 sicherlich schmerzlich vermisst werden wird. Den Nobelpreis hat er nie bekommen, obwohl er oft dafür im Gespräch war. Er wird ihn sicher auch postum nicht mehr erhalten - doch sein umfangreiches Werk mit dutzenden Romanen und autobiographischen Werken wird hoffentlich auch so von nachfolgenden Generationen neu entdeckt werden.
A propos: Gegen Jahresende entdeckte ich durch bloßen Zufall mit Kent Haruf einen neuen Autor, der das Zeug dazu hat, in meinen persönlichen Pantheon aufzusteigen. Er ist zwar bereits seit 2014 tot und hat ein eher schmales Werk hinterlassen - doch dieses ist großartig. Außerdem hat es ein Werk einer amerikanischen Autorin geschafft, mir die Bewertung "fantastisch" abzuringen, was ich in all den Jahren, die ich diese Liste nun schon führe, noch nie vergeben habe. Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Autorin ebenfalls bereits verstorben ist, allerdings schon seit über einem halben Jahrhundert.
Doch genug der Vorrede, let's get to business. Hier kommen - wie immer in chronologischer Reihenfolge - die Bücher, die ich 2024 gelesen habe. Mit Bewertung und Senf dazu.
Januar
Paul Auster - "Baumgartner"
Bewertung: sehr gut
Kommentar: (entstanden im Januar, also vor Austers Tod) Wer weiß schon, ob dies Paul Austers letzter Roman ist? Er wird in wenigen Wochen 77 Jahre alt, kämpft seit fast zwei Jahren gegen den Krebs in einem New Yorker Krankenhaus – und hat mitten in seiner Therapie diesen souveränen Roman verfasst. „Baumgartner“ bündelt ziemlich viel von dem, was ich an Paul Auster schätze. Seinem eigenen Alter entsprechend hat er diesmal mit dem emeritierten Uni-Professor Seymour „Sy“ Baumgartner eine ältere Hauptfigur eingeführt – einen Mann, der immer noch schwer an dem tragischen Tod seiner geliebten Frau vor fast zehn Jahren zu knabbern hat. Einen, der viel über sein Leben und das seiner verstorbenen Anna nachdenkt. Der Einbau von Anekdoten gehört zu Paul Austers Handwerkszeug – und diesmal setzt er dieses Stilmittel besonders effektiv ein. Wer Auster nicht mag, wird vielleicht herummäkeln, dass er ab und an ins Schwafeln gerät und den Faden verliert. Das finde ich überhaupt nicht. Auch wenn auf der Handlungsebene nicht übermäßig viel passiert, ist „Baumgartner“ ein fesselnder und dazu ziemlich weiser Roman. Eine Mischung, die es nicht allzu oft gibt. „Baumgartner“ ist vermutlich nicht Paul Austers bester Roman – zählt aber mit Sicherheit zu seinen Top 5. Sollte dies wirklich seine letzte Veröffentlichung sein, dann hat er sich großartig verabschiedet.
Tonio Schachinger - "Echtzeitalter"
Bewertung: sehr gut
Kommentar: Es kommt nicht oft vor, dass ich den amtierenden Deutschen Buchpreisträger lese, bevor schon der nächste verkündet wird. Diesmal begab es sich aber so, weil die örtliche Pfarrbücherei Tonio Schachingers in einem Wiener Eliter-Internat angesiedelten Coming-of-Age-Roman im Angebot hatte. Eins vorweg: „Echtzeitalter“ ist auf jeden Fall ein würdiger Preisträger. Selbst wenn die Thematik – ein Heranwachsender, der sich mit dem exzessiven Zocken des Strategiespiels „Age of Empires 2“ von der teils harten Realität seiner Teenagerjahre abschottet – nicht jedermanns Sache ist: Die elegante Sprache Tonio Schachingers und die erfrischende jugendliche Naivität seines Protagonisten Till machen den Roman zu einem echten Highlight. „Echtzeitalter“ zieht Tills zunehmenden Ruhm in der Welt der Online-Gamer aber nicht als einziges Thema durch. Es geht auch um die teils absurde Welt des Wiener Bildungsbürgertums, um Verluste in der Kindheit, um das Ende von Freundschaften – und natürlich um die erste Liebe. Das alles ohne Effekthascherei, sondern bodenständig und unterhaltsam geschrieben.
Februar
Florian Illies - "Zauber der Stille"
Bewertung: sehr gut
Kommentar: Bis ich 2023 die Kreidefelsen auf Rügen mit eigenen Augen gesehen habe, hatte ich zu Caspar David Friedrich keinerlei Verbindung. Seitdem habe ich mich etwas mit seinem Werk beschäftigt, doch das allein war nicht der Grund, warum ich Florian Illies' Werk über den wohl berühmtesten deutschen Landschaftsmaler unbedingt lesen wollte. Der Grund war vielmehr Illies selbst: Sein Collage-artiger Stil begeistert mich seit über zehn Jahren in jedem neuen Buch, und er ist auch in „Zauber der Stille“ wieder ein Genuss. Illies erzählt hier keineswegs das Leben Caspar David Friedrichs chronologisch nach, nein, er ordnet seine Annäherung an den Maler nach den Elementen Feuer, Wasser, Erde, Luft. Immer wieder wirft er Schlaglichter auf das (mal aufregende, oft traurige) Leben des zu Lebzeiten semi-bekannten und nach seinem Tode komplett vergessenen Malers. Das Buch erreicht für mich nicht ganz die Klasse von „1913“ und dessen Nachfolgern – auch nicht von „Liebe in Zeiten des Hasses“, doch es ist trotzdem ein Lesevergnügen erster Güte. Etwas ärgerlich waren die Rechtschreib- und Kommafehler, die mir an mehreren Stellen auffielen. Für ein in einem renommierten Verlag erschienen Buch war es eine auffällige Häufung.
März
Daniel Kehlmann - "Lichtspiel"
Bewertung: sehr gut
Kommentar: „Lichtspiel“ ist nicht ganz das Meisterwerk, das ich mir erhofft hatte und mit dem ich nach all den euphorischen Besprechungen in fast jedem deutschen Medium schon fast rechnen konnte. Trotzdem ist dieser Roman von allerhöchster Qualität und, Achtung: Wortspiel, ein wahrer Lichtblick. Nicht nur, dass es Daniel Kehlmann gelingt, den legendären Regisseur G.W. Pabst wieder in Erinnerung zu rufen – und zwar auch all jenen, die keine Hardcore-Cineasten sind. Er schafft auch nebenbei einen wunderbar lesbaren und trotzdem nicht anspruchslosen Roman über das Drehen von Filmen und der Kampf um die eigenen Werte in Zeiten einer irren Diktatur (dem „dritten Reich“)). Dass Kehlmann ein souveräner, zuweilen brillanter Erzähler ist, weiß man mittlerweile auf der ganzen Welt – und er zeigt das auch in „Lichtspiel“ wieder zur Genüge. Ich habe diesen dicken Wälzer jedenfalls mit Genuss verschlungen.
Jan Weiler - "Der Markisenmann"
Bewertung: gut
Kommentar: Ich habe lange gehadert, ob ich diesen sehr kurzweiligen, unterhaltsamen und zum Ende hin überraschend emotionalen Roman mit gut oder sehr gut bewerten soll. Und ich bin mir immer noch nicht sicher, ob er wirklich „nur“ gut ist. Denn eigentlich haben mich bei „Der Markisenmann“ nur Kleinigkeiten gestört – und insgesamt hat mich Jan Weilers Coming-of-Age-Roman ziemlich begeistert. Er schafft es in seiner Story um die 15-jährige Kim, die völlig gegen ihren Willen ihren bislang unbekannten Vater kennenlernt und gezwungenermaßen die Sommerferien bei ihm verbringt, fast komplett ohne ausgelutschte Klischees auszukommen. Er gestaltet nebenbei eine schöne Hommage an das Ruhrgebiet und seine schrägen Originale. Ich habe von Jan Weiler schon einiges gelesen, aber neben „Kühn hat zu tun“ war dieser Roman hier definitiv der beste. Also warum jetzt „nur“ gut? Vielleicht, weil das Ende dann doch ein bisschen aufgesetzt daherkam. Herzlich, aber ein wenig aufgesetzt. Geschmackssache eben.
Doris Knecht - "Die Nachricht"
Bewertung: gut
Kommentar: Eine verwitwete Frau, die sich nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes mühsam ins Leben zurückfinden muss, bekommt plötzlich anonyme Hassnachrichten auf Facebook – von jemandem, der sie gut zu kennen scheint. Diese Thriller-artige Handlung ist bei Doris Knecht aber kein Thriller geworden, auch wenn durchaus Spannungselemente vorhanden sind. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage der Protagonistin, wie sie jetzt ihr Leben gestalten soll. Sie hält viel Rückschau, stellt sich Schuldfragen, reflektiert ihre Ehe – manchmal war mir das zu viel Nabelschau. Aber „Die Nachricht“ ist trotzdem packend genug geschrieben, um gut zu unterhalten. Gegen Ende hin rückt die Frage nach dem Urheber der mysteriösen Hassbotschaften immer stärker in den Fokus – und dann gibt es durchaus noch überraschende Wendungen.
April
Friedrich Ani - "Bullauge"
Bewertung: mittel
Kommentar: Obwohl sich die zweite Hälfte sehr spannend gestaltet und das Finale mit einem (zumindest von mir) unvorhergesehenen Twist aufwarten kann, gehört „Bullauge“ für mich zu den schwächeren Krimis von Friedrich Ani. Im Vergleich zu fast allen seiner hochklassigen Romane bin ich hier mit der Hauptfigur, dem durch einen Flaschenwurf auf einem Auge erblindeten Polizisten Kay Oleander, nie richtig warm geworden. Natürlich ist er versehrt und emotional derangiert, aber sein konfuses Verhalten, das im Grunde fast schon ein Fall für die Psychiatrie wäre, ist nicht immer schlüssig. Die Dialoge waren mir teils zu verschwurbelt, der Stil viel zu Frage-lastig. Friedrich Ani bleibt natürlich einer der besten deutschsprachigen Autoren mit zum Teil extrem emotionalen und aufwühlenden Meisterwerken. Aber „Bullauge“ gehört für mich nicht dazu. Wobei wir hier immer noch keineswegs von einem schlechten Roman sprechen – nur halt auch nicht von einem hochklassigen.
Paul Auster - "Moon Palace"
Bewertung: herausragend
Kommentar: Mein erster Auster-Roman auf Englisch – und was für einer! Dieses Werk, das auf Deutsch den ziemlich unpassenden und unkreativen Titel „Mond über Manhattan“ trägt, zeigt aufs Beste, was Paul Auster zu einem der Größten seines Fachs macht. Ich kenne niemanden außer ihm, der so eloquent, anspruchsvoll und gleichzeitig zu packend erzählen kann. Niemand kann die oft verworrenen Lebenswege von Menschen besser begleiten, sie einordnen und in einen schicksalhaften Zusammenhang bringen. Es macht einfach unglaubliche Freude, einen perfekt komponierten Roman wie „Moon Palace“ zu lesen. Das Schicksal des Waisenjungen Marco Stanley Fogg, der in New York nach und nach seinen Halt verliert, fast als Obdachloser im Central Park stirbt und dann – von Freunden gerettet – auf den mysteriösen Einzelgänger Thomas Effing trifft, ist absolut Hollywoodreif. Und das ist ja nur die erste Hälfte des Romans – danach geht es plötzlich ein paar Generationen zurück und in andere Teile der USA. Auster zieht die Fäden aber so meisterhaft, dass alles Sinn ergibt, alles kohärent und nie konfus wirkt. Es ist wirklich selten, dass Anspruch und beste Unterhaltung so einträchtig nebeneinander schreiten. Ich las "Moon Palace" in knapp drei Tagen im Krankenhaus aus und werde dieses Buch nicht nur deshalb in besonderer Erinnerung behalten.
Paul Auster - "Von der Hand in den Mund: Eine Chronik früher Fehlschläge"
Bewertung: sehr gut
Kommentar: Im Anschluss hatte ich Lust auf noch mehr Auster, daher lieh ich mir in der Bücherei diesen Sammelband von 1997. Der damals längst etablierte und erfolgreiche Auster lässt darin in einem autobiographischen Essay seine Anfänge Revue passieren und beschäftigt sich insbesondere mit der Frage des Geldverdienens. Er musste teils absurde Jobs annehmen, um über die Runden zu kommen, erwarb sich dabei jedoch unzählige wichtige Erfahrungen. Wie 15 Jahre später in seiner Autobiographie „Winterjournal“ zeigt Auster hier, dass er die Kunst des Schreibens über sich selbst meisterhaft beherrscht. Wer über die nötigen sprachlichen Mittel verfügt – und das tut Paul Auster – kann jedes Leben in ein ansprechendes Gewand kleiden und spannend darstellen. Im Anhang des Buches gibt es mehrere Theaterstücke, die Auster in den späten 1970ern geschrieben hat – vor seinem Durchbruch als Romanautor. Diese haben mir jedoch weitaus weniger zugesagt als sein 1981 unter Pseudonym veröffentlichter erster Roman „Squeeze Play“, der ebenfalls enthalten ist. „Squeeze Play“ ist aus meiner Sicht ein erstklassiger, fesselnder und teilweise sogar ironisch-witziger Detektivroman. Auster selbst hat ihn als Fingerübung und bloße Kopie anderer Autoren abgetan. Doch ich halte „Squeeze Play“ ganz im Gegenteil für eigenständig, großartig konstruiert und vor allem absolut spannend. Das Ende ist gar – typisch für den Autor – durchaus wehmütig geraten.
Harald Jähner - "Höhenrausch"
Bewertung: herausragend
Kommentar: Die Weimarer Republik gehörte schon im Geschichts-Grundkurs in der Kollegstufe zu meinen Lieblingsthemen. Auch im Studium habe ich mich immer wieder mit dieser kurzen, spannenden und im Rückblick für die deutsche Geschichte so wichtigen Epoche befasst. Aber aufregender und besser als in „Höhenrausch“ habe ich die 1920er-Jahre noch nie beschrieben bekommen. Ein unglaublich gut lesbares und lebendiges Sachbuch, das zeigt, wie vielfältig das kulturelle und gesellschaftliche Leben in dieser kurzen Zeitspanne zwischen Ende des Ersten Weltkriegs und Beginn der Nazi-Diktatur aufgeblüht ist – und wie damals schon sehr viele Themen behandelt wurden, die auch heute immer wieder (teilweise ermüdend) öffentlich ausdiskutiert werden. Harald Jähner trifft genau den richtigen Ton zwischen Unterhaltung und Wissenschaft – weder Elfenbeinturm noch seichtes Nachmittagsprogramm, sondern in der goldenen Mitte. Ich lese sehr selten Sachbücher, aber wenn, dann gerne solch großartigen und lehrreichen wie „Höhenrausch“.
Gilles Leroy - "Alabama Song"
Bewertung: gut
Kommentar: Ich weiß nicht, seit wie vielen Jahren dieser preisgekrönte Roman aus Frankreich („Prix Goncourt“ 2007) schon im Wohnzimmer herumlag, bevor ich ihn nun doch einmal gelesen habe. Vermutlich weit über zehn Jahre. Bereut habe ich es auf keinen Fall: Gilles Leroy hat in „Alabama Song“ die aufregende und auch tragische Lebensgeschichte von Zelda Fitzgerald fiktionalisiert, der Ehefrau von F. Scott Fitzgerald, die aber auch so viel mehr war als das. Das ausschweifende Leben, das die beiden in den 1920ern führten, kommt natürlich auch vor, doch viel mehr liegt der Fokus darauf, wie das Eheleben mit dem Star-Autor für Zelda zunehmend zur Hölle wurde. Wie er sie immer mehr kontrolliert hat und sie schließlich jahrelang in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen versteckt hielt, als sie ihm zur Konkurrenz zu werden drohte. Teilweise sind die ausschweifenden sexuellen Fantasien, die Zelda immer wieder schildert, etwas ermüdend. Doch „Alabama Song“ fesselt trotzdem bis zum Schluss, auch wenn man das tragische Ende eh schon kennt: Zeldas Tod 1948 in einer der zahlreichen psychiatrischen Einrichtungen, als sie bei lebendigem Leibe verbrannte.
Mai
Paul Auster - "Die New-York-Trilogie"
Bewertung: herausragend
Kommentar: Die Nachricht vom Tode Paul Austers erreichte mich, als ich gerade dabei war, die erste der drei Geschichten dieses legendären Sammelbandes zu lesen. Mit der „New-York-Trilogie“ begründete Paul Auster Mitte bis Ende der 1980er-Jahre seinen Ruhm, und auch für mich war es vor einigen Jahren der erste Kontakt zu meinem Lieblingsautor. Einer spontanen Laune folgend, hatte ich die Trilogie Ende April aus dem Schrank geholt, um sie – bestimmt zum vierten oder fünften Mal – zu lesen. Und da ging die Kunde um die Welt: Paul Auster ist am 30. April im Alter von 77 Jahren verstorben. Eine Nachricht, die angesichts Austers Krebserkrankung nicht mehr überraschend kam, die mich aber dennoch schwer getroffen hat. Es gibt wenige Menschen, die ich für ihr Leben und ihre Kunst uneingeschränkt bewundere – Auster war einer von ihnen. Literarisches und moralisches Vorbild zugleich. Und die Trilogie, die ich anschließend angemessen wehmütig zu Ende las, zeigt bestens, was ihn so einzigartig machte. Mit den Mitteln des Krimis lockt er in allen drei Stories die Leser an, um dann mit ihren Erwartungen und Wahrnehmungen meisterhaft zu jonglieren. Nichts ist mehr gewiss - plötzlich besucht der Ermittler einen Autor namens Paul Auster in dessen Wohnung. Ein anderer Ermittler verliert sich in seinem Fall so sehr, dass er gar nicht merkt, wie sein eigenes Leben zerbröckelt. Der dritte Mann nimmt den Platz seines verschwundenen besten Freundes ein - und heiratet dessen Frau. Es sind verwickelte, spannende, großartige Geschichten, auf sprachlich allerhöchstem Niveau und mit unfassbarer Lust am Erzählen geschrieben. Ein Meisterwerk in jeder Hinsicht. Ruhe in Frieden, Paul Auster.
Paul Auster - "Winterjournal"
Bewertung: herausragend
Kommentar: Wie kann eine Autobiographie besser sein als diese? Paul Auster konnte stets unterhaltsam über sein eigenes Leben schreiben, ohne dass es zur Nabelschau wurde. In „Winterjournal“ widmet er sich selbst ein ganzes Buch – aber Auster wäre nicht der große Erzähler gewesen, der er war, wenn er alles chronologisch heruntergeschrieben hätte. „Winterjournal“ ist in ungewöhnlicher „Du“-Form verfasst, was sich schnell als brillanter Kniff erweist. Zudem baut Auster das Werk nicht streng chronologisch auf, sondern schiebt immer wieder passende Einschübe dazwischen. Besonders großartig ist dabei eine detaillierte Auflistung aller Orte, an denen Auster in seinem Leben gewohnt hat – inklusive der Zeitspanne. Auster, der penible Selbsterforscher und Listenführer, beschreibt hier auch, welche Bedeutung welcher Wohnort für ihn hatte und wie er seine Biographie geprägt hat. Ich habe „Winterjournal“ nach Austers Tod zum wiederholten Male mit dem allergrößten Vergnügen gelesen.
Annie Ernaux - "Der Platz"
Bewertung: herausragend
Kommentar: Nach Auster biographischem Text habe ich mich diesem kurzen autobiographischen Roman von Annie Ernaux gewidmet – meine erste Annäherung an die große französische Autorin. „Der Platz“ ist ein schlichtes, ehrliches, kleines Meisterwerk. Ein Roman über Ernaux' Familie, besonders ihren hart arbeitenden Vater, der ein kleines Geschäft in einer kleinen Stadt betrieb. Die nahbare und gleichzeitig nüchterne Sprache passt perfekt zum entbehrungsreichen und einfachen Leben der Familie – ein großer Lesegenuss.
Juni
Paul Auster - "Die Musik des Zufalls"
Bewertung: gut
Kommentar: Unter dem Eindruck des Todes meines Lieblingsautors bestellte ich mir gebrauchte Ausgaben von Werken Austers, die ich bislang noch nicht gelesen hatte. „Im Land der letzten Dinge“ ist ein Roman aus der Frühphase seiner Karriere – er erschien 1989, nur kurz nach der „New-York-Trilogie“. Es sind sehr viele, vielleicht alle, Elemente enthalten, die Austers Erzählkunst ausmachten: Ein Protagonist (Feuerwehrmann Jim Nashe), dessen Leben sich schlagartig ändert. Eine düstere Obsession. Glücksspiel. Ein Schicksal, über das der Zufall entscheidet. Die Wirklichkeit, die ins Wanken gerät und genauso gut eine Projektion sein könnte. Ein unvorhersehbares Ende. Aus meiner Sicht reicht „Im Land der letzten Dinge“ aber nicht ganz an Austers Meisterwerke wie „Mond über Manhattan“, „Unsichtbar“ oder „4 3 2 1“ heran. Vielleicht lag es daran, dass ich mit Jim Nashe und seiner Zufallsbekanntschaft, dem Lebenskünstler Jack Pozzi, nicht so warm wurde wie es zum Beispiel mit Marco Stanley Fogg aus „Moon Palace“ der Fall war. Gleichwohl eine lohnende Lektüre, und sei es nur wegen der „Bösewichte“ des Romans, dem exzentrischen Millionärs-Duo, das die Protagonisten zu einer Sisyphus-artigen Strafarbeit zwingt.
Juli
Paul Auster - "Im Land der letzten Dinge"
Bewertung: sehr gut
Kommentar: Ein weiterer Roman aus Austers Frühphase, erschienen 1987. „Im Land der letzten Dinge“ ist thematisch bestimmt Austers ungewöhnlichster Roman. Er spielt als Dystopie in einer unbestimmbaren nahen Zukunft, in der die gesellschaftliche Ordnung mehr oder weniger zusammengebrochen ist. Die Menschen in einer namenlosen Stadt, aus der es offenbar kein Entrinnen gibt, leben vereinzelt vor sich hin, bestehlen und betrügen sich, morden oder gehen zu Grunde. Die Ich-Erzählerin in Austers Roman kam auf der Suche nach einer bestimmten Person in die Stadt und findet diese auch. Sie findet aber im Laufe des Romans tatsächlich auch so etwas wie Hoffnung in diesem absolut trostlosen Szenario. Was mich an „Im Land der letzten Dinge“ so gefesselt hat, ist das scheinbare Fehlen von quasi allen Elementen, die Austers sonstige Werke auszeichnen. Thematisch steht das Buch wie ein Monolith in seinem Schaffen, ohne große Bezüge zu seiner eigenen Biographie oder zu anderen Werken. Und doch ist es unverkennbar vom selben Autor geschrieben, mit der selben feinen Sprache und Charakterzeichnung.
Carson McCullers - "Das Herz ist ein einsamer Jäger"
Bewertung: fantastisch
Kommentar: Der 1940 erschienene Roman der damals gerade mal 23 Jahre alten Autorin gilt zu Recht als einer der absoluten Klassiker der US-Literatur. Ich bin über Benedict Wells' euphorische Empfehlung auf Carson McCullers aufmerksam geworden und fand diese Ausgabe ihres wohl bekanntesten Romans in einer Grabbelkiste vor der örtlichen Bücherei. Was für ein reifes, erzählerisch hochklassiges und absolut fesselndes Werk. Kaum zu glauben, in welch jungem Alter McCullers diesen toll komponierten Roman zu Papier gebracht hat. Die Handlung schildert eine Zeitspanne weniger Monate in einer namenlosen, heißen Kleinstadt in Georgia aus der Sicht wechselnder Protagonisten, die aber alle im Laufe des Romans eine mehr oder weniger gravierende Entwicklung durchmachen. Eingewoben sind aber auch politische Hintergründe jener Zeit, etwa der US-Rassismus der 40er Jahre oder die Nazi-Herrschaft in Deutschland. Ein Werk, das mich staunen ließ und sicherlich einer der besten Romane, die ich jemals gelesen habe.
August
Ewald Arenz - "Die Liebe an miesen Tagen"
Bewertung: gut
Kommentar: Nicht Ewald Arenz' bester Roman – aber ein guter, den zu lesen sich lohnt. Zu den großen Verdiensten von „Die Liebe an miesen Tagen“ gehört, dass die Liebesgeschichte zwischen den beiden nicht mehr ganz jungen Protagonisten absolut unkitschig und teilweise auch sehr amüsant herüberkommt. Das Ende wird dann zwar emotional (es geht um eine potenziell tödliche Krankheit), dabei aber nicht gefühlsduselig. Die Charakterzeichnung fand ich allerdings – im Gegensatz zu Arenz' übrigen Romanen – nicht immer perfekt. Auch die Dialoge haben mir bei „Der große Sommer“ und „Alte Sorten“ insgesamt besser gefallen. Trotzdem: Ich habe schon weitaus schlechtere Urlaubslektüre gelesen als „Die Liebe an miesen Tagen“.
Ian McEwan - "Die Kakerlake"
Bewertung: sehr gut
Kommentar: Eine kurzweilige Satire auf den Brexit und die Figur Boris Johnsons. Man spürt Ian McEwans Zorn über die historische Fehlentscheidung, die der Brexit darstellt, auf jeder Seite. Und doch liest sich „Die Kakerlake“ nicht allzu polemisch, sondern souverän unterhaltsam. Die Anspielungen auf Kafkas „Verwandlung“ fand ich nett und auch nicht übertrieben – ein weniger versierter Autor hätte hier vielleicht mehr geklaut, doch Ian McEwan belässt es beim Einstieg und dem „Mensch wird zum Insekt“-Topos – nur hier halt umgekehrt und zudem eingebettet in den politischen Kontext. Was, wenn unsere Spitzenpolitiker nur Insekten in Verkleidung sind?
Kai Weyand - "Schiefer eröffnet spanisch"
Bewertung: sehr gut
Kommentar: Ein irre unterhaltsamer, verschrobener Roman, den ich durch puren Zufall in der Auslage eines Antiquariats in Schweinfurt entdeckte. Von Kai Weyand kannte ich bereits „Applaus für Bronikowski“, das ich als zwar interessanten, aber stellenweise etwas zu abstrusen Roman in Erinnerung hatte. „Schiefer eröffnet spanisch“ ist aus meiner Sicht um Längen besser, was vielleicht auch am Thema liegen mag. Es geht nur am Rande um Schach - eigentlich ist Weyands Roman eine verklausulierte Abrechnung mit dem deutschen Schulsystem. Aber was für eine unterhaltsame!
September
Benedict Wells - "Die Geschichten in uns"
Bewertung: gut
Kommentar: Ein guter und aufschlussreicher Schreibratgeber. Benedict Wells lehnt sich hier bewusst an Stephen Kings überragendes Werk „On Writing“ an und greift auch dessen Struktur auf: Erst gibt es einen autobiographischen Teil, der zeigen soll, wie sich die Erfahrungen des Autors und sein Lebensweg auf sein Schreiben niedergeschlagen haben. Dann geht es ab in die Werkstatt, wo am Beispiel praktischer Erfahrungen, die Wells selbst gemacht hat, die größten Fallstricke beim Schreiben eines Romans aufgezeigt werden. Revolutionär ist das nicht, aber interessant und lehrreich allemal. Ich habe für mich allerdings wieder einmal festgestellt, dass ich ein Buch nicht genießen kann, in dem gegendert wird. Sprachfremde Sonderzeichen sind der Todfeind jeden Leseflusses. Sie zerhacken jeden Text, sie erfüllen keinen praktischen Zweck (egal, wie sehr sich das manche wünschen würden), sie stören und nerven und sind Fremdkörper in der deutschen Sprache.
Dror Mishani - "Die schwere Hand"
Bewertung: gut
Kommentar: Natürlich kann einem die langsame Melancholie, in die Polizeiermittler Avi Avraham – bürgerlich übrigens: Avraham Avraham – in Dror Mishanis Romanen versinkt, irgendwann auf die Nerven gehen. Er ist das Gegenteil eines zupackenden Ermittlers, er zweifelt, er täuscht sich, er wird auch mal zurechtgewiesen. Dror Mishani kann mit dieser Ermittlerfigur aber umgehen und macht daraus literarisch hochwertige Krimis, die ich nicht zuletzt deshalb auch gern lese. „Die schwere Hand“ ist vermutlich nicht sein bester Roman (das ist nach wie vor das wahrlich grandiose Werk „Drei“), aber ein durchaus lesbarer. Das wahre Drama entfaltet sich, auch das ist man von Mishani gewohnt, im letzten Drittel des Buches.
Oktober
Sasa Stanisic - "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne"
Bewertung: sehr gut
Kommentar: Deutschlands vielleicht bester Fabulierer und Geschichtenerzähler zeigt auch in diesem neuen Erzählband, was ihn einzigartig macht. Keiner mischt Humor, Verschrobenheit und Empathie so gekonnt wie Sasa Stanisic. Und wie in so vielen seiner Romane und Erzählbände ist es gar nicht so leicht zu beschreiben, worum es eigentlich geht. Was davon autobiographisch ist und was pure Fantasie. Man muss es aber eigentlich auch gar nicht beschreiben - die kurzen Erzählungen in diesem Band leben so stark von der überbordenden Fantasie ihres Autors.
November
Friedrich Ani - "Lichtjahre im Dunkel"
Bewertung: gut
Kommentar: Formelhaftigkeit kann man Friedrich Ani ganz bestimmt nicht vorwerfen, auch wenn in „Lichtjahre im Dunkel“ wieder altbekannte Ermittlerfiguren vorkommen (Tabor Süden und Kommissarin Fariza Nasri), auch wenn Sprache und Erzählton unverwechselbar bleiben und der Roman natürlich in München spielt. Wer, wie ich, schon zahlreiche Ani-Romane gelesen hat (klassische Krimis kann man sie eigentlich nicht nennen), wird „Lichtjahre im Dunkel“ sofort als Werk desselben Autors erkennen. Und doch schafft er es, seine Romane mit überraschenden und neuen Elementen zu würzen. Im Mittelpunkt steht die Suche nach dem verschwundenen Schreibwarenhändler Leo Ahorn. Doch nach nicht einmal einem Drittel des Buches wird bereits seine Leiche im Kofferraum eines Autos gefunden, dessen zwielichtiger Halter keinerlei Verbindung zu Ahorn hatte. Jetzt wechselt Ani plötzlich die Erzählperspektive, verschiebt sie weg von den Ermittlungen in das Innenleben des Hauptverdächtigen – und webt meisterhaft noch einen weiteren Erzählstrang ein, der langsam mit allen anderen Entwicklungen zusammenläuft. Das ist im Grunde alles hochklassig und ein weiterer Beweis dafür, dass Friedrich Ani zu den besten deutschen Autoren zählt. Trotzdem hat „Lichtjahre im Dunkel“ auch ein paar Längen, die den Fluss ein wenig stören. Der Roman hätte gut und gerne 50 Seiten kürzer sein können und wäre dann noch spannender gewesen.
Kent Haruf - "Unsere Seelen bei Nacht"
Bewertung: sehr gut
Kommentar: Ein wunderbarer und bei aller Melancholie federleicht zu lesender Roman eines Autors, den ich bis vor Kurzem nicht kannte. Kent Haruf starb Ende 2014, diesen Roman vollendete er kurz vor seinem Tod. Er zeigt das Ringen mit dem Alter und der Sterblichkeit, allerdings auf wunderschöne und, ja, auch herzerwärmende Weise. Eine alleinstehende ältere Frau unterbreitet ihrem langjährigen Nachbarn, der ebenfalls verwitwet ist, ein ungewöhnliches Angebot: sie fragt ihn, ob er nicht ab sofort abends bei ihr schlafen will, damit sie nicht mehr so alleine ist. Zwischen den beiden entsteht ob ihrer Gemeinsamkeiten eine Vertrautheit, die sie nicht für möglich gehalten hätten – und die in der prüden US-Kleinstadt Holt auf Widerstand stößt. Besonders zum Ende hin hat mich „Unsere Seelen bei Nacht“ so bewegt wie lange kein Roman mehr.
Dezember
Kent Haruf - "Ein Sohn der Stadt"
Bewertung: herausragend
Kommentar: Nach dem Zufallsfund „Unsere Seelen bei Nacht“ inspiriert, musste ich gleich den nächsten Roman von Kent Haruf lesen, den die kleine Bibliothek vor Ort zu bieten hat. „Ein Sohn der Stadt“ entstand Mitte der 1980er Jahre und schlägt einen durchaus anderen Ton an, wobei gewisse Eckpunkte eindeutig auf den selben Autor verweisen. Wie alle Werke von Kent Haruf spielt die Handlung in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado. Und der melancholische, oft etwas distanzierte Unterton schwingt auch hier mit, obwohl die Handlung eine ganze Ecke düsterer ist als bei „Unsere Seelen bei Nacht“. Der namensgebende Sohn der Stadt ist Jack Burdette, der einst als Football-Star über die Grenzen Holts hinaus für Furore sorgte, dem ansonsten im Leben aber wenig gelingt. Einige Jahre lang schlägt er sich als Charmeur und vermeintlicher Geschäftsmann durch das Leben, dann türmt er eines Tages Hals über Kopf mit der gesammelten Geldeinlage einer Bauerngenossenschaft und hinterlässt eine fassungslose Stadt. Und darüber hinaus seine Ehefrau mit den beiden Kindern. Wie Holt und seine verlassene Frau mit dem Betrug ihres einstigen Lieblings umgehen, ist unfassbar gut geschildert – zumal der Ich-Erzähler immer mehr selbst in den Mittelpunkt der Handlung rückt. Haruf verweigert sich moralischen, plakativen Sätzen und lässt vielmehr die Handlung der einzelnen Personen für sich sprechen. „Ein Sohn der Stadt“ liest sich in manchen Passagen locker und unterhaltsam, nur um dann an anderer Stelle mit kaum ertragbarer Härte aufzuwarten (vor allem am Ende). Ein großartiger Roman.
Erich Kästner - "Als ich ein kleiner Junge war"
Bewertung: gut
Kommentar: Dieser Zufallsfund aus dem Bücherschrank hat mich bestens unterhalten. Kästners in den 1960ern entstandene Jugenderinnerungen spielen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und bilden somit ein tolles Zeitdokument in locker erzählter Prosaform. Kästner erinnert sich melancholisch an seine Kinderjahre in Dresden zurück, eine Stadt, die damals für ihn unerreichbar war (er lebte in München, Dresden lag in der „Zone“ hinter der Mauer). Kästners warmherzige, nur manchmal etwas belehrende oder großväterliche Sprache macht Spaß zu lesen, die Geschichte seiner Familie väterlicher- und mütterlicherseits ist durchaus interessant.
Kent Haruf - "Lied der Weite"
Bewertung: sehr gut
Kommentar: Der dritte Roman von Kent Haruf in nur wenigen Wochen zeigt eindrucksvoll, welche Bandbreite der 2014 verstorbene Autor hatte. Er schafft es hier mühelos, die Geschichte einer schwangeren und von ihrer Mutter verstoßenen Teenagerin mit dem Schicksal eines von seiner Frau verlassenen, alleinerziehenden Lehrers zu vermischen. Und dabei haben diese beiden Personen im Roman noch nicht einmal etwas miteinander zu tun – außer, dass sie Schülerin und Lehrer sind. Sie sind nur zwei Beispiele der schillernden Auswahl an denkwürdigen Charakteren aus der fiktiven US-Kleinstadt Holt, die Haruf hier versammelt.