Paul Austers spätes Meisterwerk "4321"
Für mich kam "4321" in diesem Frühjahr ziemlich aus dem Nichts. Was Neuerscheinungen von Büchern angeht, bin ich nicht immer so auf dem Laufenden wie bei neuen Alben meiner einschlägigen Bands. Dass mit Paul Auster einer meiner Lieblingsautoren pünktlich zu seinem 70. Geburtstag ein neues Buch veröffentlichte, traf mich also durchaus überraschend. Noch dazu veröffentlichte Auster ja nicht irgendein Buch, nicht einen herkömmlichen 300-Seiten-Roman, sondern ein Werk, das geradezu nach der Bezeichnung "Magnum Opus" schreit. Rund 1250 Seiten ist "4321" dick – ein Alterswerk von epischen Ausmaßen, gewissermaßen ein "Best Of" von Austers bisherigem Schaffen, unterlegt mit einer unkonventionellen Erzählweise.
"4321" schildert den Lebensweg seines Protagonisten Archie Ferguson nicht stringent, sondern fächert sein Dasein ab der Geburt in vier verschiedene Varianten auf. Immer entwickelt sich Ferguson anders, wird von unterschiedlichen Umständen unterschiedlich geformt, trifft Entscheidungen, die eine andere Variante seines Ichs womöglich nicht getroffen hätte. Trotzdem hat der Leser unzweifelhaft immer den selben Menschen vor sich. Diese Herangehensweise, die Auster übrigens ganz am Schluss durch Fergusons Mund noch einmal erklärt, klingt nicht nur komplex – sie ist es auch. Und sie ist gespickt mit Fallen. Wie einfach wäre es doch für einen Autor, sich in dieser Vielfalt der Varianten zu verlieren, sich zu sehr in die eigene Idee zu verlieben und die Frage der Identität über die Handlung zu stellen. Zum Glück ist Paul Auster für einfache Fehler nicht zu haben. Es ist erstaunlich, wie meisterhaft er die Fäden bis zum Schluss in der Hand hält. Auch, weil er es sich nicht nehmen lässt, das Schicksal grausam walten zu lassen. So lässt er seine Hauptfigur an einer Stelle einen tragischen Teenagertod sterben. Dann wieder ist es ein Jugendfreund Fergusons, der urplötzlich und direkt neben ihm stehend aus dem Leben gerissen wird, was Fergusons Dasein entscheidend beeinflusst. Einmal kann er mit seiner Angebeteten Amy zusammen sein, einmal kann er es nicht, weil sie durch die Hochzeit ihrer Elternteile zu Stiefbruder und Stiefschwester werden.
Wie in all seinen Büchern hat Auster auch hier wieder eine ganze Kanne autobiografischer Elemente hineingekippt. Er selbst hat früh im Leben erkennen müssen, welche Zufälle über Leben und Tod entscheiden oder den eigenen Lebensweg entscheidend beeinflussen können – denn wie Ferguson im Buch musste auch er den Tod eines jugendlichen Kameraden miterleben, der genauso gut ihn selbst hätte ereilen können. Außerdem brach auch Auster als junger Mensch nach Paris auf, um dort zu leben, so wie es fast alle seiner vier Fergusons im Buch tun. Die Unruhen an der Columbia-Universität, in denen Fergusons politisches Weltbild sich festigt, hat Auster selbst miterlebt. Um nur einige Beispiele zu nennen.
Doch selbst wenn man sich in Austers Biografie nicht auskennt, ist "4321" ein Lesegenuss von tatsächlich epischen Ausmaßen. Ein Buch, das den Lobeshymnen zu einhundert Prozent gerecht wird. Ich kann mich nicht daran erinnern, schon einmal ein so umfangreiches Buch so schnell verschlungen zu haben (für den "Herrn der Ringe" brauchte ich damals ein Dreivierteljahr, diesmal waren es sechs Wochen). Womöglich hat dieser erfolgreiche und zu Recht mit Preisen überhäufte Autor hier tatsächlich seinen Höhepunkt geschaffen, das eine Buch, an das man sich auch lange nach seinem Tod noch erinnern wird. Und wer weiß, welche Auswirkungen "4321" noch auf die Überlegungen des Nobelpreiskomitees im kommenden Jahr haben könnte.
Wenn mich die stachelige Muse küsst, schreibe ich übrigens öfter mal Buchrezensionen. Zuletzt tat ich das gleich für vier Bücher auf einmal, und zwar hier.