Tunnelnovelle (Auszug)
Auszug aus der Erzählung "Tunnelnovelle" - Kompletter Text umsonst bei Amazon
Auf dem Bahnsteig unter der Erde herrschte ein reges Treiben. Auf einem länglichen, schmalen Betonstreifen hatten sich viele Menschen zusammengefunden, um mit Zügen durch das Erdreich unter der großen Stadt zu reisen. Soeben war einer dieser Züge eingefahren, und obwohl sich in seinem Inneren bereits viele Fahrgäste befanden – Arbeitnehmer auf dem Weg in den Feierabend, junge Mütter mit Kinderwägen, Studenten unterwegs zu einer abendlichen Vorlesung – versuchten die auf dem Bahnsteig wartenden Personen dennoch, zuzusteigen. Zur selben Zeit drängten einige der Fahrgäste aus dem eingefahrenen Zug nach draußen, und es entstand ein hektisch hin und her wogender Kreisel aus Armen, Beinen, bebrillten Gesichtern und in die Höhe gehaltenen Taschen. Während einige der Einsteigenden geduldig warteten, bis die anderen Fahrgäste ausgestiegen waren, konnten es andere nicht abwarten und versuchten, den Kreisel mit Gewalt in seiner Mitte zu durchbrechen, begleitet von empörten Rufen und Schreien.
Am vordersten Ende des Zuges, im Führerhaus, schüttelte Werner Leitner den Kopf. Er starrte auf seine Überwachungsbildschirme, murmelte „Das gibt es doch nicht“, drückte auf den Knopf seiner Sprechanlage.
„Bitte zurückbleiben - Türen schließen.“ Er betätigte den Schließmechanismus.
„Wenn ich ’zurückbleiben’ sage, dann meine ich das auch!“, rief Leitner in das Mikrofon. Der Schweiß stand ihm auf der geröteten Stirn. „Unmöglich“, murmelte er, als sich der Zug langsam und schwerfällig in Bewegung setzte.
Nach wenigen Sekunden schluckte das Dunkel des U-Bahntunnels alles um ihn herum. Nur noch die Lichter im Führerhaus des Zuges bildeten kleine Wegmarken, an denen man sich in der Dunkelheit orientieren konnte.
„Passiert das öfters?“, fragte der Mann zu Leitners Linken. Es war das erste Mal, dass der Neue ihn etwas fragte. Bisher hatte er geschwiegen und sich das Tageswerk, das auch er bald zu verrichten haben würde, teilnahmslos angesehen. Es war sein erster Tag, und Leitner hatte die Aufgabe, ihn einzuweisen.
„Was meinst du genau?“, fragte Leitner. Er hatte den Namen seines Begleiters vergessen, irgendetwas Slawisches war es gewesen. Andrej? Marek? Oder doch Pawel?
„Na ja, dass die Leute sich gegenseitig beim Ein- und Aussteigen behindern. Dass sie versuchen, sich in den Zug zu quetschen, obwohl die Türen bereits schließen.“ Sein Deutsch war gut, nur ein leichter Akzent verriet seine ausländische Herkunft.
„Ach so.“ Leitner ließ ein heiseres Lachen vernehmen. „Das meinst du. Ja, doch. Am Sendlinger Tor passiert so etwas ständig. Auch an einigen anderen Haltestellen, an denen sich Linien kreuzen und wo viele Fahrgäste unterwegs sind. Daran wirst du dich gewöhnen müssen. Die Leute sind, wie sie sind. Man kann sich darüber aufregen, aber man kann es nicht ändern.“
Der Zug bahnte sich weiter seinen Weg durch das Dunkel im Münchener Untergrund. Nur notdürftig leuchteten die Scheinwerfer den Tunnel aus. Immer wieder waren an der Wand Hinweisschilder oder Graffitis zu sehen, die im Vorbeifahren jedoch unlesbar waren. Auch kleine Seitengänge mit Türen zischten vorbei.
Leitner war kein Mann vieler Worte. Er liebte die Ruhe, die ein U-Bahnfahrer zwangsläufig während seiner Arbeit hatte. Es war nun mal ein einsamer Job hier unten im Tunnel. Smalltalk war Leitner zuwider, und er war auch nicht gut darin. Vielleicht war das einer der Gründe, warum er nach all den Jahren, die er nun schon in der Gesellschaft angestellt war, immer noch Züge fuhr und sich nicht zu einem Schreibtischjob empor gearbeitet hatte. Ihm fehlte einfach der Karrieretrieb, der Willen, anderen Leuten zu schmeicheln, um beruflich voranzukommen. Dennoch wollte er heute nicht unhöflich gegenüber dem neuen, verschüchtert wirkenden Kollegen sein, und ein wenig hatte ihn die Neugier nun doch gepackt.
„Entschuldigung, wenn ich noch einmal fragen muss, aber deinen Namen habe ich vorhin nicht genau verstanden.“
„Mirko“, sagte der Slawe.
„Ah, Mirko. Das werde ich mir jetzt merken, versprochen. Und wo kommst du her, wenn ich fragen darf?“, fragte Leitner.
„Heute heißt der Staat Montenegro. Als ich geboren wurde, noch nicht. Meine Familie ist damals vor dem Krieg geflohen. Das war kurz vor meinem Abschluss an der Uni.“
„Du hast studiert?“
„Ja.“ Er schien nicht darüber reden zu wollen, und Leitner fragte ihn auch nicht weiter. In den vielen Jahren, die er nun schon als U-Bahnfahrer arbeitete, hatte er unzählige Kollegen kommen und gehen sehen. Manche waren in die Arbeitslosigkeit gerutscht und hatten dann umgeschult, andere hatten es in ihren alten Berufen nicht mehr ausgehalten. Er erinnerte sich an einen Kollegen, der zuvor Filialleiter einer Sparkasse gewesen war. Auch Studierte waren ihm schon des Öfteren untergekommen. Sie hatten nach dem Abschluss keinen Job gefunden, was Leitner immer wieder aufs Neue erstaunte. Warum dann überhaupt studieren? Er hatte das nie in Erwägung gezogen.
Der Zug fuhr nun die nächste Haltestelle an. Leitner verlangsamte behutsam das Tempo. Das alles verschlingende Dunkel lichtete sich und gab einen neuen länglichen Bahnsteig aus Beton frei, der in einer riesigen Halle lag, die man aus dem Erdreich gegraben hatte. Hier, am Goetheplatz, standen deutlich weniger Menschen am Bahnsteig als an der Haltestelle zuvor.
Schweigend beobachteten die beiden das Ein- und Aussteigen der Fahrgäste am Überwachungsbildschirm. Wieder waren Anzugträger mit Arbeitstaschen darunter, wieder ein paar Mütter mit Kinderwägen und diesmal auch eine sehr dicke Frau in zu enger Kleidung. Leitner kannte all die Typen in- und auswendig, im Laufe der Jahre hatte sich streng genommen nur ihr Kleidungsstil verändert. Wobei auch heute noch an der Uni oft langhaarige und schmuddelig gekleidete Studenten einstiegen, genau wie damals in seiner Anfangszeit. Abends erwischte man heutzutage an vielen Stationen ganze Gruppen betrunkener Jugendlicher, viel mehr noch als früher. Er wusste längst, wo er was zu erwarten hatte. Er kannte die Münchener in all ihren Facetten.
„Wie lange machst du das schon? U-Bahn fahren?“, fragte ihn der Slawe.
„Seit 24 Jahren.“ Leitner gab sich Mühe, sein breites Münchenerisch zu unterdrücken und deutlich zu sprechen. „Ich hab’ in Sachen U-Bahn fast alles mitgemacht. Von den ganz alten Zügen bis zu den modernen wie diesem hier. Als ich angefangen hab’, war das U-Bahnnetz hier in München noch überschaubar. Heute ist alles viel größer, heute fahren wir sogar über die Stadtgrenzen hinaus. Wer weiß, vielleicht kann man irgendwann mit der U-Bahn bis nach Augsburg fahren.“ Wieder ein heiseres Lachen.
Leitner drückte den Knopf der Sprechanlage. „Zurückbleiben!“ Es zischte, die Türen gingen mit einer sanften und fast schon anmutigen Bewegung zu. Mit einem leichten Ruck setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
Alles, was sich nun abspielte, war bereits zuvor geschehen und würde noch tausende weitere Male passieren. Erneut schwappte die Dunkelheit wie eine Welle über das Führerhaus der U-Bahn hinweg. Für einige Augenblicke war das monotone Rattern der Gleise das einzig wahrnehmbare Geräusch.
„Macht dir der Beruf noch Spaß nach 24 Jahren?“, fragte der Andere.
Leitner nickte. „Durchaus. Ich mache es immer noch gern, auch wenn ich mich oft über die Leute ärgere. Aber wie ich schon gesagt habe, man kann die Leute nicht ändern, also nehme ich sie so, wie sie sind. Ich habe nie etwas anderes gelernt, von daher habe ich sowieso keine Wahl. Bis zur Rente sind es nur noch ein paar Jahre, die werde ich jetzt auch noch rumkriegen.“
„Hast du Familie?“
Leitner blickte seinen jungen Begleiter zum ersten Mal direkt an. Der konnte nun zum ersten Mal die tiefen Furchen erkennen, die sich über Leitners Stirn zogen und sich in sie eingegraben hatten. Er hat es nicht immer einfach gehabt, dachte Mirko instinktiv.
„Ja. Bin verheiratet“, sagte Leitner leise und ohne Nachdruck. Er sah nun wieder aus dem Fenster auf die Strecke hinaus.
„Keine Kinder?“
Es kam keine Antwort. Nur Stille. Mirko drehte seinen Kopf und blickte Leitner an, doch der starrte mit offenem Mund nach vorne. Seine Augen waren geweitet, er wirkte erschrocken. Als hätte er den Teufel persönlich auf den Geleisen erblickt. Sein Blick folgte dem Leitners, doch er sah nichts außer der totalen Dunkelheit neben den schwach ausgeleuchteten Schienen. Was mochte Leitner nur so erschrocken haben?
„Werner?“ Mirko blickte seinen Begleiter erneut an. Leitner schien sich kurz innerlich zu schütteln. Als würde er aus einem Sekundenschlaf erwachen, dachte Mirko.
„Nein, keine Kinder. Leider.“ Leitner schwieg kurz, sagte dann: „Ich muss jetzt die nächste Haltestelle ansagen.“
Er drückte den Knopf der Sprechanlage. „Nächster Halt: Poccistraße.“
Am Ende der Dunkelheit tat sich eine kleine Öffnung auf, die immer größer wurde. Die nächste Insel des Lichts im Dunkel unter der Oberfläche.
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