Über das Sterben
Der Tod hatte bis gestern in meinem Leben noch keine allzu große Rolle gespielt. Vor acht Jahren starb meine Großmutter mütterlicherseits – ihre Beerdigung in Essen ist die einzige, an die ich mich erinnern kann. Als meine Großmutter väterlicherseits starb, war ich noch ein Kind, meine Großväter habe ich nie kennengelernt, sie starben beide vor meiner Geburt.
Gestern erreichte mich nun die Nachricht vom Tode eines guten Freundes. Etwa zwei Wochen vor seinem 33. Geburtstag ist er überraschend gestorben. Und ich sehe mich zum ersten Mal mit dem kaum begreiflichen Gefühl der Absolutheit konfrontiert, die der Tod mit sich bringt. Das Wissen bei der Verabschiedung, dass man sich immer noch einmal trifft, und sei es erst in ein paar Monaten oder in einem Jahr, es ist plötzlich außer Kraft gesetzt. Von einer Sekunde auf die andere wird mir klar, dass ich ihn eben nicht wieder treffen und mit ihm über Musik, Fußball, Politik und Geschichte diskutieren werde. Er ist nicht mehr da, und er wird auch nicht mehr zurückkehren. Ich ertappe mich dabei, wie ich nach einer Möglichkeit suche, dass das nicht stimmt. Aber es ist wahr. Wir werden uns nicht wiedersehen. Was bleibt: eine seltsame Leere, eine Art Vakuum, mit dem ich noch nicht gelernt habe umzugehen. Und viele Erinnerungen. Fotos auf dem Computer.
Gestern hätte ich ihn zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder gesehen. Er wollte ins Irish Pub kommen, zur lustigen Stammtisch-Runde, zum Pub Quiz. Lange hatte er dafür keine Zeit mehr gehabt, gestern wäre er einmal wieder dabei gewesen. Jetzt weiß ich, wissen wir alle, dass er überhaupt nicht mehr dabei sein wird. Und wieder steht da dieses Gefühl der Endgültigkeit im Raum. Es zu akzeptieren, fällt nicht leicht. Bisher dachte man immer: Dann halt beim nächsten Mal. Aber es wird kein nächstes Mal geben.
Natürlich kenne ich die Sinnsprüche. Der Tod gehört zum Leben dazu, so lautet einer. Stimmt. Niemand lebt ewig. Aber kein Sinnspruch kann die Unmittelbarkeit abfedern, mit der einen eine Todesnachricht aus den Grundfesten reißt. Man wundert sich, wie das Leben auf der Straße und im Internet einfach so weitergehen kann. Wie Twitter-User ernsthaft über Sterbehilfe diskutieren und wie virtuelle Freunde bei Facebook über Fußball oder Big Brother ablästern können. Ein Stück weit spürt man in Augenblicken wie diesen die eigene Machtlosigkeit. Man wird wütend über die Ungerechtigkeit dieser Welt: Wie kann es sein, dass ein solcher Mensch so jung sterben muss? Ein sympathischer und charismatischer Typ, gebildet und belesen, rhetorisch einmalig und sehr eloquent. Einer, der jedes Partygespräch bereichert hat und mit dem man über so viele Themen so wunderbar debattieren konnte. Wie kann es sein, dass so jemand vorzeitig gehen muss, während irgendwo anders eitle, dumme und eindimensionale Charaktere in ihren Fernsehsesseln sitzen und einhundert Jahre alt werden? Irritierend ist nicht die Wut über diese Ungerechtigkeit, denn die ist ja nur zu verständlich. Irritierend ist, dass es niemanden gibt, an den man sie richten kann.
Zurück bleiben die Erinnerungen. Wir kannten uns seit der fünften Klasse. Unsere Heimatorte lagen nur wenige Kilometer auseinander. Immer wieder verloren wir uns im Laufe der Jahre ein wenig aus den Augen, gab es Phasen in denen wir weniger miteinander unternahmen. Doch dann wieder denke ich an gemeinsame Vorlesungen an der Uni, an scherzhafte Diskussionen in der Cafeteria, an Historikerpartys, bei denen die Biervorräte viel zu früh alle waren. Ich denke daran, wie ich ihn in Edinburgh während seines Auslandssemesters besucht und drei Tage auf dem Boden in seinem winzigen Wohnheimszimmer geschlafen habe. An den Aufstieg auf den "Arthur's Seat" mit unvergleichlichem Blick über die ganze Bucht. An die Karaokeparty im Pub irgendwo in der Altstadt, wo wir "Don't look back in anger" sangen. Nein, ich blicke nicht im Zorn zurück. Obwohl ich es nie verstehen werde. Obwohl da diese Leere ist, die sich erst langsam wieder füllen wird. Der Tod ist das eine Gesetz, das niemand außer Kraft setzen kann. Ich werde allerdings nie nachvollziehen können, warum es hier so außerplanmäßig früh angewandt wurde.