Wenn der Augenblick kommt
Gestern ist mir Folgendes passiert: Ich bin Auto gefahren, auf der Autobahn. Und dann habe ich einen Augenblick der Erleuchtung gehabt. Ganz plötzlich, einfach so. Das müssen Sie sich mal vorstellen. Man fährt da ganz normal wie gewohnt auf der Autobahn, nichtsahnend, mit zweihundert Sachen, und dann kommt so ein Augenblick, und es werden einem lauter Dinge klar. Man sieht die Zusammenhänge, alles erscheint plötzlich plausibel, man wird quasi erleuchtet. Und das, während man Richtung Feldkirchen auf der linken Spur versucht, einen Porsche Cayenne abzuhängen, der meint, sich aufmandeln zu müssen mit seinen lächerlichen 180 PS. Und soll ich Ihnen sagen, wie es mir ergangen ist, als der Augenblick der Erkenntnis gekommen war? Scheißwütend war ich! Hab aufs Lenkrad gehauen, herumgebrüllt wie eine Wildsau auf Speed, und vor lauter Wut hätte ich bei Tempo zwohundert fast die Leitplanke geküsst.
Warum ich so aufgebracht war? Das wollen Sie wirklich wissen? Ja, das ist doch klar: wegen dem Augenblick natürlich! Weil der Augenblick ein Arsch ist. Ein richtig arroganter Arsch ist das. Kommt der einfach so, wenn es mir grad überhaupt nicht passt. Hätte sich ja ankündigen können. Ich war immer zu erreichen, der Augenblick hätte ja vorher sagen können: Du, pass auf, morgen Nachmittag gegen vier Uhr wäre ich dann da. Nimm dir da mal nix vor, dann kannst die Erkenntnis in aller Ruhe verarbeiten. Setz dich schön in deinen Sessel, schau aus dem Fenster, und denk über alles nach. Hinterher schreibst dann eine philosophische Abhandlung zu dem Thema.
Das wäre alles möglich gewesen. Und es ist ja nicht so, dass es in den letzten Jahren nicht Phasen gegeben hätte, in denen ich auf den richtigen Augenblick gewartet habe. Ja, ich hab mir oft gedacht: Wann kommt er nur, dieser eine Augenblick? Nächste Woche hätte ich Urlaub, da wäre es wirklich super. Oder schon jetzt am Sonntag, da kommt eh kein Fußball? Aber nein, der Augenblick kommt einfach, wann es ihm passt. Sich nach den Bedürfnissen und nach dem Zeitplan von anderen richten, das macht ein Augenblick nicht, dafür ist er sich zu fein. Verstehen Sie jetzt, warum ich so wütend war? So ein Verhalten kann ich auf den Tod nicht ausstehen. Was, wenn ich vor lauter plötzlicher Erkenntnis wirklich einen Unfall gebaut hätte und verreckt wäre? Natürlich wäre das allein die Schuld von diesem einen Augenblick gewesen, aber der wäre trotzdem fein raus gewesen, mal wieder. Kein Anwalt würde sich trauen, den Augenblick zu verklagen. So eine richtig schöne Grundsatzklage, das wär's doch! Aber macht natürlich keiner. Weil überhaupt jeder den Augenblick für einen ganz tollen Hecht hält. Für einen Scheiß-Wohltäter sogar! Wie heißt es immer: „Die Gunst des Augenblicks“? Ja, bin ich ein Bettler oder ein Asylant, dass ich auf dem seine Gunst angewiesen bin? Ich hab einen Beruf, Geld und ein Auto mit sechs Gängen. Ich brauch doch nicht die Gunst von irgendeinem arroganten Augenblick. Oder?
Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Die Erkenntnis, dass der Augenblick so ein verdammtes Arschloch ist, hat mich gestern auf der Autobahn kurzzeitig so in Rage versetzt, dass ich die ganze vorige Erkenntnis im nächsten Augenblick wieder vergessen habe. Ich bin jetzt quasi genau so blöd wie zuvor. Das heißt, fast. Ich bin ja dafür um die andere Erkenntnis reicher. Also um die, dass der Augeblick ein Arschloch ist. Kann ich mir davon was kaufen? Nein. Im Gegenteil, die Schweine haben mich sogar noch in der Hunderter-Zone beim Autobahnkreuz München Ost geblitzt. Meinen Lappen bin ich dann wohl erstmal los. Und das nur, weil ich einen Augenblick nicht aufgepasst habe. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber: Ich erkenne da ein Muster.