Buchkritik: Gibt es Kängurus in "Qualityland"?
Natürlich hätte Marc-Uwe Kling es sich auch einfach machen können. Die Känguru-Bücher samt Hörspielen verkaufen sich bestimmt auch noch bis ins nächste Jahrhundert hinein blendend. Als politischer Musikkabarettist oder mit seiner Band "Arbeitsgruppe Zukunft" läuft es ebenfalls gut. Kling hätte sich also auch zurücklehnen können, ab und zu einen neuen Känguru-Text veröffentlichen, im Internet das gesellschaftliche und politische Geschehen kommentieren oder mit seiner Bühne 36 ab und zu im Fernsehen auftreten können.
Da ich im Konjunktiv schreibe, ist klar, dass er all das nicht gemacht hat. Statt dessen hat er seinen ersten richtigen Roman veröffentlicht, eine satirische Zukunftsutopie mit dem Namen "Qualityland". Dass Kling einen solchen Schritt wagt, mit dem er Gefahr läuft, seine Känguru-affine Fanbase zu enttäuschen oder verstören, ehrt ihn. Es macht "Qualityland" aber, bei aller Sympathie für den Autor, nicht automatisch zu einem brillianten Buch. Denn das ist es nicht, obwohl es größtenteils sehr unterhaltsam und witzig ist und an manchen Stellen seinen Zweck überaus gut erfüllt, der lautet: die Leser zum Nachdenken anzuregen. Böses Wort, schon klar. Doch der moralische Anspruch war ja schon in den Känguru-Büchern nicht zu übersehen – und die Tatsache, dass er nicht negativ aufgefallen ist, spricht für Klasse der kurzen, anekdotenhaften Texte.
Worum geht es in dem Roman? In einer nahen Zukunft haben bestimmte gesellschaftliche Tendenzen unserer Gegenwart ihren Höhepunkt gefunden. Die Welt ist bevölkert von Selbstoptimierern, die je nach gesellschaftlichem Wert und Leistung in Levels eingeteilt sind – alles unter Level Zehn gilt als "Nutzloser". Die Menschen sind rund um die Uhr vernetzt und versorgen sich in ihren Filterblasen mit reißerischen News. Drohnen liefern ihnen Produkte, die sie gar nicht bestellt haben, sich aber gewünscht haben könnten. Deutschland heißt aus Marketinggründen nicht mehr Deutschland, sondern – richtig – Qualityland, und seine großen Städte hören auf Namen wie Quality City, Growth oder Progress. Und auch die Bewohner tragen nun neue Nachnamen, nämlich jeweils den Beruf des Vaters beziehungsweise der Mutter, was zu herrlichen Namen wie Melissa Sexarbeiterin oder Tony Parteichef führt. Der Protagonist des Romans, Peter Arbeitsloser, sieht sich als "Opfer des Systems", da er ein Produkt zurückgeben möchte, das er sich nicht gewünscht hat. Dies erweist sich als ziemlich schwierig, ja unmöglich.
Was "Qualityland" lesenswert macht, ist sein popkultureller Anspruch. Kling schafft wunderbare Running Gags und Anspielungen auf Figuren unserer Gegenwart: Vom Hitler-Musical bis hin zum unerwarteten Revival von Jennifer-Aniston-Liebeskomödien. Auch die Selbstreferenzen zu bestimmten Figuren aus dem Känguru-Universum sind unterhaltsam. Die Story selbst kommt dagegen manchmal etwas dünn und am Reißbrett entworfen daher. Dass der Stil betont einfach gehalten ist, wäre überhaupt nicht schlimm – etwas anderes passt weder zum Autor noch zum Setting des Buches. Aber manche Kapitel sind dann doch ein wenig hölzern geraten und bestehen fast nur aus Dialogen. Man merkt, dass das längere Romanformat den Autor an einigen wenigen Stellen vor große Herausforderungen gestellt hat.
Trotzdem: Die Lektüre verspricht großen Spaß und einige interessante Einblicke zu Datensicherheit, künstlicher Intelligenz und einer Zukunft, die keineswegs so unmöglich ist, wie man meint. Wenn auch nur einer der vielen Leser von "Qualityland" – das Buch hat sich auf der Spiegel-Bestsellerliste sofort weit oben eingeordnet – zu einem vernünftigen Umgang mit dem Internet angeregt wird, hat der Roman seinen Zweck erfüllt. Und das auf ziemlich lustige Weise.
Ich schreibe mehr oder weniger regelmäßig Buchkritiken, zuletzt unter anderem zu Paul Austers "4321" oder gleich zu vier Büchern auf einmal. Und vielleicht schaffe ich es eines Tages auch wieder, einen kostenlosen Newsletter zu verschicken.