In einem späteren Leben werde ich über den begehrten Rohstoff namens Freizeit in unbegrenztem Maß verfügen können. Und dann werde ich all die Dinge anpacken, von denen ich mir jetzt vorstelle, dass ich sie eines Tages anpacken werde.
Zum Beispiel die fünfteilige Dokumentation „Wie ein Fremder“ ansehen. Der Trailer zu dem Langzeit-Projekt von Aljoscha Pause (der unter anderem die ebenfalls hervorragende Fußball-Doku „Tom Meets Zizou“ gedreht hat) verspricht jedenfalls viel: Im Mittelpunkt steht der Musiker Roland Meyer de Voltaire, dessen Name den meisten Leuten auf Anhieb vermutlich nichts sagen wird. Und genau das ist der „Skandal“, den diese Doku beleuchtet. Denn Roland Meyer de Voltaire zählt mit Sicherheit zu den talentiertesten Rockmusikern, die dieses Land je hervorgebracht hat. Mit seiner Band Voltaire veröffentlichte er zwei Alben bei einem Major-Label. Doch trotz wohlwollender bis begeisterter Kritik blieb der Band der Durchbruch verwehrt, der Frontmann verschwand für Jahre in der Versenkung und musizierte für einen immer kleiner werdenden Kreis von ergebenen Bewunderern. Regisseur Aljoscha Pause hat seinen Werdegang über Jahre hinweg begleitet.
Das Netz kennt All About Ruphus fast nicht mehr
Wozu dieser Exkurs zum Auftakt? Nun, je mehr ich über „Wie ein Fremder“ nachdachte, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass auch ich einen ähnlichen Fall wie Roland Meyer de Voltaire kenne. Auch wenn sich ein direkter Vergleich verbietet. Bei der Band, die ich vorstellen möchte, war nie ein Major-Label im Spiel und sie hat, soweit mir bekannt, nie eine richtige Tournee gespielt, ja überhaupt nie ein Konzert außerhalb des oberbayerischen Raumes gegeben. Anders gesagt, sie stand nicht einmal an der Schwelle zu einem irgendwie gearteten Durchbruch. Doch All About Ruphus waren eben auch über die Maßen talentiert und hätten ein weitaus größeres Publikum verdient gehabt, als es ihnen in den wenigen gemeinsamen Jahren vergönnt war. Sie haben ein einziges Album veröffentlicht, das ich auch nach fünfzehn Jahren noch grandios finde. Und dann haben sie sich getrennt und gingen ihrer Wege. Im Netz gibt es so gut wie keine Spuren mehr von ihnen – was ich hiermit gerne ändern würde.
Nun kann man natürlich einwenden, dass es derlei Fälle zu hunderten, vielleicht tausenden gibt - gute Musiker oder Bands, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht berühmt werden. Und das stimmt natürlich. Das verbietet mir aber keineswegs, es im Falle von All About Ruphus schade zu finden, dass die Band ihren Weg nicht weitergegangen ist. Vielleicht spielt in der Geschichte aber auch die emotionale Komponente eine Rolle. Denn auch ich war mal Musiker, und die paar Konzerte, bei denen meine Punk-Kapelle mit All About Ruphus die Bühne teilen durfte, sind in meiner Erinnerung die lebendigsten und vielleicht auch die schönsten aus all den Jahren.
Ich wage kaum daran zu denken, wie lange all das jetzt schon her ist. Als wir mit All About Ruphus und einer weiteren Band aus der Gegend eine „Mini-Tour“ auf die Beine stellten, war Angela Merkel noch Oppositionsführerin im Bundestag. Wir schreiben das Jahr 2005, System of a Down haben gerade „Mezmerize“ veröffentlicht, und neben diesem Album läuft im CD-Spieler meines Autos höchstens noch „Lullabies to Paralyze“ von Queens of the Stone Age oder „Just One More“ von den Mad Caddies. Ich bin 22 und nur noch wenige Monate davon entfernt, nach München zu ziehen. Ein Student ohne den ganz großen Plan, was die Zukunft anbelangt - aber mit viel Freizeit.
„Mini-Tour“. Das mag nach professioneller Planung klingen, ist bei näherer Betrachtung aber eine durchaus hochtrabende Bezeichnung für diese klitzekleine Konzertreihe. Die Abmachung war damals: Jede Band sucht eine Location in ihrer Nähe, in der alle drei auftreten können und macht ein bisschen Werbung dafür. Was genau All About Ruphus und meine Band zusammengeführt hat, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich vermute, dass einer von uns einen von ihnen kannte, wie das damals halt so war und heute bestimmt immer noch ist.
Eine absurde Mischung verschiedener Genres - die perfekt funktioniert
Schon beim ersten gemeinsamen Auftritt mit den drei Jungs war ich ziemlich begeistert. Diese brachiale Power! Dieser Gitarrenlärm! Dieser zerbrechliche und zugleich wütende Gesang! Das Double-Bassdrum-Gewitter, die unerwartet auftauchenden ruhigen Parts, die teils epischen Songlängen, die zupackenden Refrains. All About Ruphus spielten eine absolut wilde und wirre Mischung aus Musikstilen, die Puristen niemals mischen würden: viel Metal, etwas Punkrock, durchaus auch Alternative Rock, ein bisschen Grunge-Einschlag, ein wenig Folk-Rock, und eine Spur Emo war auch erkennbar. Faszinierend war, wie harmonisch das alles klang. Zu verdanken ist das in erster Linie dem Talent von Andi Langhammer, Drummer Johannes Klein und seinem Bruder Jakob am Bass.
Neben der Mini-Tour nahmen wir gemeinsam mit All About Ruphus auch noch an einem Bandwettbewerb in Vilsbiburg teil, der den knackigen Namen „VIB-Search 2005“ trug. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, schlugen wir uns zwar wacker – doch am Ende gewannen den Titel verdientermaßen Ihr-wisst-schon-wer. Die Siegerband durfte mit dem veranstaltenden Tontechniker einen Song aufnehmen, und wie es sich für in größeren Kategorien denkende Musiker gehört, gingen All About Ruphus in die Vollen: Sie nahmen den Titel „Harmony of Death“ auf, der über 15 Minuten dauert und in dem sich die Gitarrenriffs aneinander reiben wie ein Rudel Pinguine in einer arktischen Winternacht. Eine andere Band hätte womöglich etwas locker-leichtes aufgenommen,was sich gut vermarkten lässt und mit dem man potenzielle Veranstalter beglücken kann. Diese Band wählte einen schwer verdaulichen, aber großartigen Metal-Brocken aus, in dem es um Tod und Erlösung im Jenseits geht. Puh.
Der Tontechniker, ein Typ, der eher zu DSDS als zu langhaarigen Rockmusikern passte, drehte im finalen Mix zwar den Bass fast unhörbar leise. Was ihn aber nicht davon abhielt, vom Ergebnis derart begeistert zu sein, dass er All About Ruphus nochmal in sein Studio lockte, um mit ihnen ein ganzes Album aufzunehmen. Dieses hieß „Let's Go Get Lost“ und erschien 2006 – etwa ein oder zwei Jahre, bevor die Band sich auflöste.
"Peter": Wo All About Ruphus nach Südamerika klangen
Auf „Let's Go Get Lost“ finden sich (zieht man drei kurze Instrumentalstücke ab) sieben Songs, die das volle Spektrum und das überbordende Talent dieser Band aufzeigen. Von relativ straightem Alternative-Rock in „Cancer Account“ über das neunminütige Gitarrenriff-Monster „Helicopter Sunset“, die tieftraurige Folk-Ballade „Rose on a Field“, die brachial wütende Liebes-Anklage „Inadequacy“ mit den zugleich niedergeschlagensten und aggressivsten Passagen des gesamten Albums sowie die knackige Gitarrenwalze „Scars“ führt der Weg hin zu besagtem „Harmony of Death“, das das Album abschließt. Das Niveau ist enorm hoch, und doch schafft es ein Lied, herauszustechen – das war 2006 so und ist bis heute so geblieben. Und dieses Lied trägt den schlichten Namen „Peter“.
„Peter“ ist gewiss der ungewöhnlichste Song auf dem Album. Über weite Strecken klingt er eher nach Südamerika als nach US-Gitarrenrock. Sogar eine Trompete darf mal kurz mitspielen, und statt wuchtigem Schlagzeug erklingt über weite Passagen ein Percussion-Feuerwerk, das auf einer Samba-Parade keineswegs deplatziert wirken würde. Und doch steckt hier unverkennbar All About Ruphus drin: der mal kehlige und raue, dann wieder zerbrechliche Gesang, die runtergeschrammelten Akkorde, schließlich die sich langsam aufbauende Drohkulisse vor dem druckvollen Metal-Part, der nach zwei Dritteln der sechseinhalb Minuten die luftigen Rhythmen von davor wegpustet. Natürlich sind auch die Melodien große Klasse und der Songtext rettet sich gekonnt davor, zu explizit zu werden.
„Be careful / just be aware of what you need / be aware of what you say /
I suffer / be aware of what you say / be aware of what you say
'cause I won't be here / and I won't be there tonight“
Man kann nur spekulieren, worum genau es hier gehen mag. Aber die Worte transportieren eine Stimmung – und zwar keine fröhliche. Anderen Bands mögen explizite Slogans gut zu Gesicht stehen, bei All About Ruphus sind die Andeutungen eines Leidens („suffer“ ist ein Wort, das auf dem Album häufiger vorkommt) gerade genug und gerade richtig. Kunst ist immer dann am besten, wenn sie ein Stück weit rätselhaft bleibt.
Lost Name: Wie es nach dem Ende der Band weiterging
Rätselhaft ist es auch – um den Bogen zum Anfang zu spannen – warum All About Ruphus angesichts solcher Songs so völlig unter dem Radar der Öffentlichkeit blieben. Nicht einmal zu einer Kult-Anhängerschaft haben sie es gebracht. Außer meinen ehemaligen Bandkollegen fällt mir niemand ein, dem der Name der Band überhaupt etwas sagen dürfte. Ein Grund dafür könnte sein, dass All About Ruphus selbst kein großes Interesse am Bekanntwerden hatten. Sie spielten nach Veröffentlichung des Albums kaum Konzerte, um es zu promoten. Statt dessen trennten sie sich bald darauf lautlos und gingen ihrer Wege. Es mag auch weitere, interne Gründe für das Aus gegeben habe, über die zu spekulieren ich weder befugt bin noch Lust habe. Fakt ist, dass All About Ruphus großes Potenzial hatten - ein Potenzial, wie ich es bei kaum einer anderen Band gesehen habe. Von daher ist es jammerschade, dass dieses eine tolle Album „Let's Go Get Lost“ auch schon ihr Vermächtnis ist.
Was aus Johannes und Jakob Klein wurde und ob sie jemals noch anderweitig Musik gemacht haben, weiß ich nicht. Sänger und Gitarrist Andi Langhammer hingegen betätigte sich schon während seiner Zeit bei All About Ruphus mit seinem Lo-Fi- und Indie-Projekt Lost Name, bestehend nur aus ihm selbst und einer Loopmaschine. Natürlich klingt das anders als seine frühere Band– ruhiger, verschwurbelter, atmosphärischer – aber vieles von dem, was die Band für mich so besonders machte, findet sich in den Songs wieder. Andi hat mehrere Alben in Eigenproduktion veröffentlicht und zuletzt 2017 ein sehr gutes und aufwendiger produziertes bei einem richtigen Label (Anspieltipp: "The Libertine Song"). Seine Facebookseite hat über 1.000 Fans und der Bayerische Rundfunk bezeichnete ihn in einem Bericht mal als „den bayerischen Conor Oberst“.
All About Ruphus sind also schon längst Geschichte und werden auch nie wieder Musik machen. Das ist vielleicht auch gut so. Da ihre Songs aber zu gut sind, um dem ewigen Vergessen anheim gegeben zu werden, habe ich bei YouTube einige Kostproben hochgeladen. Vielleicht werden es auch noch mehr. Wenn ich damit wenigstens das eine oder andere Paar Ohren mit wirklich guter Musik bekannt machen kann, dann hat sich der Aufwand bereits gelohnt.
P.S.: Die eingangs erwähnte Band von Roland Meyer de Voltaire, also Voltaire, lohnt ebenfalls Jahre nach ihrer Auflösung noch entdeckt zu werden. Wer sich schon immer gefragt hat, wie eine Band klingt, die die frühen Radiohead und andere sehr gute Einflüsse zu deutschen Texten imitiert, ist hier richtig.