Selbst den optimistischsten Zeitgenossen dürfte mittlerweile das Gefühl beschlichen haben, dass wir in schlimmen Zeiten leben. Ob es an der rasenden Geschwindigkeit liegt, mit der uns Katastrophenmeldungen in der Smartphone-Ära erreichen, oder ob mal wieder die Globalisierung Schuld ist, die uns Tragödien aus allen Winkeln der Erde in die Wohnzimmer bringt: Gefühlt kann man seit mehreren Jahren nicht mehr den Fernseher anschalten oder eine Nachrichtenseite aufrufen, ohne mit humanitären Katastrophen, Anschlägen auf Flüchtlingsheime, Hungersnöten oder Zugunglücken konfrontiert zu werden. Dieses Dauerfeuer der Negativmeldungen kann an die Substanz gehen, keine Frage. Und so ist es nur verständlich, dass man mit Entsetzen auf den Fremdenhass reagiert, der neuerdings schamlos durch Deutschlands Straßen schwappt. Oder auf ein grauenhaftes Unglück wie das von Bad Aibling, bei dem elf Unschuldige in den Tod gerissen wurden. "Das ist eine Tragödie für unser ganzes Land, die uns mit Trauer und Entsetzen erfüllt", sagte Ministerpräsident Horst Seehofer folgerichtig. Und auch, wenn man dem politischen Grobmotoriker und Populisten aus Leidenschaft ansonsten niemals zustimmen darf - hier hat Seehofer dann doch mal uneingeschränkt Recht.

Wenn Unverständnis zu Entsetzen wird

Ebenso nachvollziehbar, dass Spitzenpolitiker einer Schlagzeile auf tagesschau.de zu Folge "mit Entsetzen" reagierten, als im Januar eine Handgranate auf ein Flüchtlingsheim geworfen wurde. Zeigte dieser Vorfall doch, wie weit die Verrohung in unserer Gesellschaft mittlerweile fortgeschritten ist. Aber wie nimmt sich nun im direkten Vergleich die Schlagzeile aus, dass Ex-Fußballtrainer Ottmar Hitzfeld "mit Entsetzen" reagierte, als ihm die Berufung Zinedine Zidanes zum Cheftrainer bei Real Madrid zugetragen wurde? Reden wir hier über dieselbe Form von Entsetzen? Kann man Ottmar Hitzfeld tatsächlich unterstellen, dass ihn die Besetzung eines Trainerstuhls in dem selben Ausmaß schockiert wie ein Mordanschlag auf Schutzsuchende, die vor Krieg und Verdammnis in ihrem Heimatland geflohen waren, nur um jetzt gleich vom nächsten Trauma heimgesucht zu werden? Oder hat hier nicht vielleicht der diensthabende Redakteur auf der Suche nach einer guten Schlagzeile zu tief in der Pathos-Kiste gewühlt? Denn wenn man unter der "Entsetzen"-Schlagzeile weiterliest, erfährt man, dass Hitzfeld über die "Causa Zidane" wortwörtlich sagte: "Für ihn ist es ein Sechser im Lotto. Ein Wahnsinn. Verrückt. Er ist ein Trainer ohne jegliche Erfahrung. Er lebt ausschließlich von seinem großen Namen als Spieler." Aha. So schnell wird aus "Entsetzen" also reines Unverständnis. Das sind durchaus zwei völlig unterschiedliche Dinge. Gut, dass wir darüber gesprochen haben.

Der Begriff "Entsetzen" ist einer der stärksten, wenn es um unmittelbare Emotionen geht. Er drückt die Hilflosigkeit angesichts überwältigender Ereignisse aus, er beschreibt ein Gefühl des Überrumpelt-Seins, der Überforderung. All das trifft zu, wenn zwei Züge aufeinander krachen und Menschen in den Tod gerissen werden, oder wenn ein marodierender Mob mit Hassparolen durch die Straßen unserer Städte zieht. Man steht daneben und ist entsetzt, fühlt sich hilflos. Es trifft aber nicht zu, wenn ein Fußball-Experte seine persönliche Meinung über die Entscheidung eines Vereins äußert. Das hat mit Entsetzen nichts zu tun. Und es sollte auch nicht so umschrieben werden. Wenn ein Medium schon zu derartigen, in höchstem Maße reißerischen Mitteln greifen muss, um seine Artikel halbwegs interessant zu machen, dann ist das traurig. Bedenkt man zudem, dass dies keineswegs eine Ausnahme war, sondern ein allgemeiner Trend, dann kann man darüber durchaus entsetzt sein. Substanzverlust gibt es nämlich nicht nur im politischen Diskurs zu beklagen, sondern auch im Journalismus. Je brutaler die Schlagzeile, desto höher die Klicks. Entsetzlich.

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