Juli Zehs Gesellschaftsroman „Unterleuten“ ist intelligent, packend, stellenweise virtuos – und konnte mich doch nicht restlos überzeugen. Dabei bringt er eigentlich alles mit, was ein Meisterwerk haben muss.
Was passiert, wenn in einem kleinen, abgeschiedenen Dorf in Brandenburg Lebenswelten und -entwürfe aufeinander prallen, die unterschiedlicher nicht sein könnten? Hier die alteingesessenen Bewohner, verwurzelt, anspruchslos, untereinander zum Teil seit Jahrzehnten verfeindet – dort die aus der Großstadt geflohenen Neuankömmlinge mit ihren romantischen Vorstellungen vom urtümlichen Landleben. Nicht zu vergessen: der Großkapitalist aus dem Süden der Republik, der sich zum Schnäppchenpreis weite Teile des Dorfes unter den Nagel gerissen hat.
In Orten wie Unterleuten ist die Welt definitiv auch nicht mehr in Ordnung. Aber dafür ist der Wohnraum noch billig. Wer will schon in der Einöde leben, wo der nächste Bahnhof eine halbe Weltreise entfernt ist, es noch nicht einmal Gehsteige gibt und die größte Errungenschaft seit dem Fall der Mauer die Errichtung einer eigenen Trinkwasserversorgung ist?
Jeder Erzähler ändert die Sichtweise auf die Handlung
Juli Zeh nähert sich diesem Biotop und seinen Bewohnern auf ungewöhnliche Weise - indem sie nicht auf einen Protagonisten setzt, sondern gleich auf ein gutes Dutzend. In jedem der kurzen Kapitel wechselt die Perspektive, und genau das entpuppt sich als einer der größten Pluspunkte dieses Romans.
Denn mit jedem Erzähler ändert sich die Sichtweise auf die Handlung. Der knallharte und derbe Großbauer Gombrowski rekapituliert, wie er nach dem Ende der DDR die brachliegende Landwirtschaft in seinem Heimatdorf wieder aufgepäppelt hat. Seine gedemütigte und verprügelte Ehefrau Elena hingegen wirft frühmorgens Steine auf das Nachbarhaus, in dem Gombrowskis langjährige Affäre wohnt. Gombrowskis Erzfeind seit Kindertagen Kron trauert der DDR hinterher, aber ein Stück weit auch seiner vor Jahrzehnten in Richtung Kapitalismus geflohenen Ehefrau. Der idealistische Vogelschützer Gerhard ist mit seiner halb so alten Ehefrau Jule und dem kleinen Töchterchen aus Berlin aufs Land geflüchtet. Statt hier aber die unberührte Natur genießen zu können, kämpft die Familie gegen den Nachbarn, der in seiner Autowerkstatt den ganzen Tag Reifenstapel abfackelt und ihnen damit die Luft zum Atmen nimmt. Und dann ist da noch die resolute „Pferdefrau“ Linda Franzen, die ihr Leben auf den Weisheiten eines Ratgeber-Büchleins aufgebaut hat und mit ihrem verträumten Partner Frederik eine leerstehende Villa in Unterleuten erworben hat, die den Vorbesitzern angeblich nur Unglück gebracht hat.
Schon die Auflistung der Protagonisten zeigt die Ambition dieses Romans. Fehlt nur noch die entsprechende Rahmenhandlung – die kommt in Form eines Windparks, den ein Energieunternehmen direkt neben dem Dorf errichten will. Die Folge: Hass, Neid und Missgunst greifen um sich, alte Gräben brechen auf und neue entstehen.
Eine Themenvielfalt von Sozialismus bis Browsergame
Keine Frage, „Unterleuten“ ist nicht nur wegen seines Umfangs von über 630 Seiten ein großer Roman. Juli Zeh streift Themen von Wiedervereinigung bis Loveparade, von Browserspielen bis sozialistische Landwirtschaft, von Aussteigertum bis Familiendrama. Immer wieder stolperte ich beim Lesen über großartige Passagen voller Wahrheit, so wie zum Beispiel die lapidare Erinnerung von Dorfbürgermeister Arne an den Fall der Berliner Mauer und die Nachwendezeit:
„Siebzig Kilometer weiter hatte sich Berlin im Freudentaumel befunden, während in Unterleuten ein fiebriger Schockzustand herrschte, der das Blut erhitzte und die Gehirne benebelte. Von denen, die fortgingen, hieß es bald, sie hätten für die Stasi gearbeitet, und mit einem Mal wohnten selbsternannte Opfer in den verlassenen Häusern. Wer sich enteignet fühlte, nahm sich etwas anderes zur Entschädigung und erzählte über jenen, dem es gehörte, die schlimmsten Geschichten. Grundsätzlich waren die eigenen Kinder nicht aus Dummheit, sondern aus politischen Gründen durchs Abitur gefallen. Berufliches Scheitern taugte plötzlich als Beweis für geleisteten Widerstand gegen das Unrechtssystem [...]“
Um auf den Anfang zurückzukommen: Was ist es dann also, das mich nicht restlos überzeugt hat an diesem interessanten Roman, der noch dazu ein starkes Finale zu bieten hat? Vermutlich die Summe mehrerer kleiner Faktoren. An mancher Stelle beschlich mich das Gefühl, dass sich Juli Zeh vielleicht doch zu viel vorgenommen hat, dass die Handlung nicht mit der Ambition der Autorin Schritt halten konnte. Einen Schlenker oder zwei hätte sie sich wohl sparen können, um sich dafür noch mehr auf das Dorf Unterleuten zu konzentrieren. Denn dafür, dass es eigentlich im Mittelpunkt aller Erzählstränge steht, bleibt es irgendwie leer, eine Kulisse. Und abseits des handelnden Personals erfährt man wenig bis nichts über seine Bewohner, sie bleiben Statisten. Zudem: So interessant die meisten Protagonisten auch sind, eine gewisse Holzschnittartigkeit war zum Beispiel bei Linda Franzen und ihrem charakterlich diametral entgegen gesetzten Partner Frederik nicht von der Hand zu weisen.
Wenn ich hier also durchaus herummäkele, dann vor allem deshalb, weil „Unterleuten“ ohne diese (letztlich kleinen und unbedeutenden) Mängel ein richtig großer Wurf geworden wäre. Ein Meisterwerk mit dem Zeug zum zeitlosen Klassiker. Aber, wie gesagt: das ist mein rein subjektives Empfinden. Wir haben es hier immer noch mit einem tollen Roman zu tun, einem wichtigen noch dazu, den ich mit gutem Gewissen jedem empfehlen kann, der an menschlicher (und auch an ein wenig ornithologischer) Feldforschung interessiert ist.