Ein Text, den ich am heutigen Abend geschrieben habe. Ein Text, der sich gegen Leute richtet, die sich gegen Leute richten. Möge es nützen.


Als in Martin Langer ein Stück seiner Kindheit starb, saß er gerade am aufgeklappten Laptop in seiner Untergiesinger Zweizimmerwohnung und scrollte durch den Newsfeed in einem sozialen Netzwerk. Er las Einträge von Leuten, die er zum größten Teil nicht nur virtuell als Freunde betrachtete, sondern auch im richtigen Leben mehr oder weniger gut kannte. Nach kurzer Zeit – er hatte sich soeben ein YouTube-Video über den Auftritt eines US-Komikers angesehen, das ein Freund gepostet hatte - stieß er auf jenen Eintrag, der die Brücke in sein altes Leben endgültig zum Einsturz brachte. Er stammte von dem einen Menschen, den Martin als seinen besten Freund bezeichnete und der ihm bis zu dieser Sekunde sehr viel bedeutet hatte. Mehr als alle Studienfreunde und Arbeitskollegen, mit denen er sich zuweilen auf ein Feierabendbier traf oder gemeinsam die Bundesligakonferenz am Samstag verfolgte. Sogar mehr als all die Frauen, mit denen er in den Jahren seit dem Ende seiner Schulzeit den Aufbau einer Liebesbeziehung geübt hatte.

Schon im Kindergartenalter hatte Martin mit Andreas Stöckl im Sandkasten gespielt. Erst wurden die Spielzeugautos durch die Gegend bewegt und später der Fußball auf der Wiese. Als Fahrradgang hatten sie gemeinsam auf ihren BMX die Straßen ihres Heimatdorfes unsicher gemacht. Waren in den Wald geradelt und hatten dort an einem uneinsehbaren Hang eine Höhle gegraben, in der sie im Laufe der Jahre vermeintliche Schätze versteckten. Etwa die Flasche Bier, die Andreas aus dem Keller seines Elternhauses entwendet hatte. Sie waren damals elf Jahre alt und tranken zum ersten Mal Bier, und sie fanden es schrecklich. Eine Ansicht, die sich im Laufe der Jahre ins Gegenteil verkehren sollte. Wie sich überhaupt vieles in ihrer beiden Leben veränderte, bis auf die Tatsache ihrer Freundschaft, die unerschütterlich und unverbrüchlich jeder Entwicklung trotzte. Mit Andreas verband Martin ein Einverständnis, das keiner von ihnen jemals hinterfragte, weil es für sie ganz natürlich war. Bis in die Kollegstufe hinein waren sie beinahe jeden Tag zusammen unterwegs oder telefonierten wenigstens miteinander. Sie entdeckten gleichzeitig den Reiz des anderen Geschlechts für sich, gingen immer öfter auf die Besäufnisse, die die örtliche Landjugend unter dem Begriff "Party" veranstaltete, wuchsen allmählich zu selbstbewussten jungen Männern heran. Und sie lernten das Leben kennen, mit all seinen Freuden und Fallstricken. Als Andreas siebzehn war, starb sein Vater an Lungenkrebs. Martin gehörte zu denen, die bei der Beerdigung seinen Sarg trugen.

Nichts konnte einen Keil zwischen sie treiben. Auch als Martin nach bestandenem Abitur nach München zog, um zu studieren, während Andreas den elterlichen Speditionsbetrieb übernahm, blieben sie in engem Kontakt. Regelmäßig, mindestens zweimal im Jahr, trafen sie sich im Dorf wieder, um über alte Zeiten zu plaudern und auf das Leben anzustoßen. Andreas hatte mit vierundzwanzig geheiratet, war mittlerweile zweifacher Vater und im Dorf eine angesehene Persönlichkeit. "Der kommt nach seinem Vater", sagten die Alteingesessenen respektvoll. Er ging gewissenhaft seiner Arbeit nach, kümmerte sich liebevoll um seine Familie und machte keinen Blödsinn. Ganz klar war er einer, auf den man sich verlassen konnte. Martin hatte eigentlich vorgehabt, auch dieses Jahr seinen Weihnachtsbesuch bei den Eltern mit einem Treffen mit Andreas zu verbinden. Doch daran dachte er nun nicht mehr. Er hatte überhaupt keinen klaren Gedanken mehr, als er da saß, vor seinem Computerbildschirm, und las, was Andreas in dem sozialen Netzwerk geschrieben hatte.

"Es muss Schluss sein mit dem Zustrom von Islamisten und Ausländern. Ich will nicht, dass meine Kinder zur Minderheit im eigenen Land werden. Meine Tochter wird nicht mit Kopftuch herum laufen, nur weil die Politik das gerne so hätte", stand da zu lesen als Kommentar zum Eintrag einer Patriotenpartei, den Andreas in seinem Profil geteilt hatte. "Wer will, dass Deutschland seinen Stolz nicht verliert, soll jetzt endlich die Stimme erheben! Keine Flüchtlinge mehr ins Land!" Und unter diese Worte hatten dutzende weitere Leute zustimmende Kommentare hinterlassen. Es waren Namen, die Martin aus seinem Heimatdorf ebenfalls nur zu gut kannte. "Es muss ein Machtwechsel her! Ein Grenzzaun wie früher, das wär's!", stand dort etwa im Namen Reinhard Gebauers geschrieben, der vor vielen, vielen Jahren Martin und Andreas in der D-Jugend des örtlichen Fußballvereins trainiert hatte. Andere wie etwa Werner Leitner, ein alter Schulfreund von Martins Vater, der ihm das Gitarrespielen beigebracht hatte, waren der Meinung, dass es schon jetzt viel zu viele kriminelle Ausländer im Land gebe. Außerdem lese man ja immer wieder, dass die meisten Flüchtlinge radikale Gotteskrieger waren und kein Interesse an den Werten des Grundgesetzes hatten.

Martin las das alles und versuchte gleichzeitig, seine Gedanken im Zaum zu halten. Es gelang ihm nicht. Noch nie in den achtundzwanzig Jahren seines Lebens hatte er seinen alten Schulfreund Andreas, hatte er die anderen vertrauten Gestalten aus dem Dorf als politische Menschen mit eigener Meinung wahrgenommen. Das Dorf war ihm, wie auch sein Elternhaus, immer als ein Ort jenseits der realen Welt erschienen. Ein Schneckenhaus, in das er sich jederzeit zurückziehen konnte, wenn ihm das Leben in der Millionenstadt zu viel wurde. Man sprach im Dorf über Alltägliches, sicherlich auch zuweilen über Sorgen oder private Probleme. Aber gesellschaftliche und politische Fragen hatten in der ländlichen Atmosphäre zwischen dem dunkelgrünen Wald und der Weite der üppigen Weizenfelder nie eine Rolle gespielt. Man hatte über derlei Dinge nie gesprochen, zumindest nie in seiner Anwesenheit. Martin fiel auf, dass er nicht hätte sagen können, welche Partei Andreas eigentlich wählte, oder ob er überhaupt seine Stimme abgab.

Das, was draußen in der Welt vor sich ging, hatte das tägliche Leben im Dorf nie tangiert und die festgefahrenen Abläufe nicht verändert. Und auch jetzt gab es, soweit Martin bewusst war, keine Flüchtlinge dort. Wo sollten sie denn auch wohnen? Es existierten keine leerstehenden Häuser in der wohlhabenden Gemeinde, in die die Vertriebenen hätten einziehen können. Die Menschen in den wenigen Straßen rund um den großen Kirchplatz waren dieselben wie noch letztes Jahr und vorletztes. Die eingeschworene Dorfgemeinschaft war, seitdem er denken konnte, nur selten durcheinander gebracht und erweitert worden. Höchstens alle paar Jahre mal zog eine Familie von Auswärtigen in eines der wenigen Neubaugebiete, meist gut verdienende Manager, die ihren Arbeitsplatz in München mit den Annehmlichkeiten des Landlebens verbinden wollten. Über Bundesstraße und Autobahn konnte man mühelos in einer Stunde in der Stadt sein, und doch war deren quirlige und hektische Atmosphäre draußen auf dem Land weit weg. Martin versuchte, zu begreifen, wie sich in dieser friedlichen, langsamen, betulichen Gemeinde rechtes Gedankengut hatte einnisten können. Es ergab alles keinen Sinn.

Und doch standen sie da, diese Parolen gewordenen Sätze, die kurzsichtigen Gedanken, die mühsam und ungelenk in Worte verpackten Angstreflexe. Und Martin wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. In diesem Augenblick fühlte er mit aller Wucht, wie fremd ihm all die Gestalten aus seiner Kindheit geworden waren. Sie wussten nichts. Hatten nicht die leiseste Ahnung. Sie konnten nicht über die meterhohen Zäune blicken, die ihre Grundstücke ebenso umgaben wie ihre Köpfe. Er hingegen lebte in der großen Stadt, seit vielen Jahren schon, und das hatte seinen Blick auf die Dinge verändert. Hier war es normal, Mitmenschen aus allen Erdteilen zu begegnen und sie miteinander fremde Sprachen sprechen zu hören- Im Dorf gab es, soweit ihm bewusst war, nicht einmal Einwohner aus Norddeutschland, höchstens ein paar zugezogene Hessen und Schwaben. Woher wollte ein Andreas Stöckl wissen, was es bedeutete, seine Heimat hinter sich zu lassen und in einem fremden Kulturkreis auf einem anderen Kontinent, in einem abweisenden und kalten Klima, ein neues Leben zu beginnen?
Hatte Andreas schon einmal einen Flüchtling aus der Nähe gesehen? Einen echten, lebendigen Menschen aus Afrika oder dem mittleren Osten, der eine wochenlange, gefährliche Überfahrt über das Meer auf sich genommen hatte, um Krieg und Hunger zu entkommen? Würde es ihm schlechter gehen, wenn einer dieser Menschen versuchte, in seinem Dorf eine neue Existenz für sich und seine Familie aufzubauen? Natürlich nicht. Eher konnte einer wie Andreas davon profitieren. Denn Martin erinnerte sich nur zu gut daran, wie dieser ihm im vorigen Jahr sein Leid geklagt hatte, dass er kaum noch fähige Fahrer für seine Spedition finden konnte, weil immer weniger Leute willens waren, diesen anstrengenden Job auszuüben. Und jetzt machte er Stimmung gegen genau die Leute, die ihm aus dieser Misere helfen konnten. Martin sah die Dinge klar, die Andreas nicht sah. Nicht sehen konnte und vermutlich auch nicht sehen wollte.

In ihm kochte es. Er spürte, wie die Wut ihn benebelte und seine Erinnerungen an früher überlagerte. Er begann, seinen ältesten Freund zu verachten. Ja, er hasste Andreas, empfand nur mehr Mitleid mit seinem satten und verängstigten Heimatdorf und mit all denjenigen, die zu Menschlichkeit nicht fähig waren und Kriegsflüchtlinge nur als dunkle Bedrohung ihres Wohlstands wahrnahmen. Martin wusste in dieser Sekunde, dass er am Scheideweg stand. Die Zeit war gekommen, sich von Altlasten zu befreien. Noch einmal holte er tief Luft, klickte dann auf Andreas' Profil, fuhr dort mit der Maus auf den "Freunde"-Button und entfernte das Häkchen. Es schmerzte nur ganz kurz.

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