Es gibt Lieder, die so bekannt sind, dass schon tausende vor mir über sie geschrieben haben. Das macht es naturgemäß schwer, etwas Interessantes über sie zu erzählen. Aber soll man deshalb darauf verzichten? Gute Songs können nichts für ihre Mythisierung. Wären sie banal, würde man sich nicht an sie erinnern.
Wenn ich hier also über Pearl Jams Single "Alive" aus dem Jahr 1991 schreibe, dann mit Sicherheit nicht, um zu begründen, warum ich den Song gut finde. Denn was könnte ich da erzählen, das nicht eh schon bekannt ist? Soll ich etwa meine Meinung über das Gitarrenriff abgeben, das dieses Lied auf eine derart markante Weise eröffnet, die selbst ein Musik-Legastheniker sofort wieder erkennt? Soll ich über den emotionalen Text schreiben, diese Abhandlung über Kindheitstraumata und den Verlust eines Elternteils, die im kämpferischsten aller Mantras mündet – "I'm still alive!"? Oder über die Magie in Eddie Vedders sonorer Stimme, über den vielleicht erhebendsten Refrain der Rockgeschichte, über das virtuose Gitarrensolo von Mike McCready in den letzten knapp eineinhalb Minuten, das ihm seinen Platz im Pantheon der großen Rockgitarristen sicherte?
Das alles kann ich mir wohl sparen. "Alive" landet nicht zufällig regelmäßig weit vorne, wenn die besten Rocksongs aller Zeiten gewählt werden. Pearl Jam haben gleich zu Beginn ihrer Karriere einen absoluten Übersong geschrieben, und es ist für eine Band die größte Auszeichnung, dass sie dieses Niveau im Laufe der Jahre noch einige weitere Male erreicht haben. Ich werde also nicht darüber schreiben, was "Alive" objektiv so großartig macht. Sondern darüber, was das Lied für mich persönlich bedeutsam machte - und immer noch macht.
Ein CD-Sampler brachte mich mit "Alive" in Berührung
Als ich "Alive" das erste Mal hörte, irgendwann kurz oder nach den Ereignissen vom 11. September 2001, war ich ein eher unbedarfter Kollegstufenschüler, noch keine zwanzig Jahre alt. Mein Musikverständnis war damals noch kaum ausgeformt, es glich eher frisch gegossenem Beton, in dem gewisse – schlechte – Bands ein paar kleine Abdrücke hinterlassen hatten, in dem aber noch jede Menge Platz für tiefe Einprägungen war.
Ein musikbegeisterter Freund stellte mir eine CD mit einigen Songs zusammen, die er gut fand. Das machte man damals noch, man brannte sich gegenseitig CDs und steckte viel Liebe zum Detail rein. Werden heute überhaupt noch CDs gebrannt? Vermutlich schon, aber in der beginnenden MP3-Ära, lange vor Aufkommen irgendwelcher Streaming-Dienste, stellte das Brennen einen weitaus schwierigen und daher auf gewisse Weise nerdigen Vorgang dar, der eine große Liebe zur Musik voraussetzte. Jedenfalls befand sich auf der CD, neben allerlei seltsamem Zeug wie Yngwie Malmsteen – mein Mitschüler hatte eine Schwäche für Powerrock mit ausufernden Gniedelsoli – auch Pearl Jams "Alive". 5 Minuten und 41 Sekunden, die schon beim ersten Anhören meinen Blickwinkel auf Rockmusik gewaltig veränderten. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt offenbar keine Ahnung gehabt, wie dicht ein Soundteppich aus Gitarre, Bass, Schlagzeug und Gesang gewebt sein konnte. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass man mit einfachen Mitteln etwas so Großes schaffen kann, wenn nur die Leidenschaft stimmt. Ich hörte das Lied wieder und wieder an, saugte das Knurren in Eddie Vedders Stimme auf, ergötzte mich an dem aus tiefster Seele kommenden "Yeahyeahyeah"-Schrei unmittelbar vor Einsetzen des kreischenden Gitarrensolos, war berührt wie selten zuvor und danach in meinem Leben.
Wut, Trauer, Auflehnung: Ein Lied über universelle Empfindungen
"Son / Have I got a little story for you / What you thought was your daddy / was nothing but a…" Anfangs dachte ich noch, dass Vedder singt: "What you thought was your life". Hätte ja auch ganz gut gepasst. Ein Leben, das in Trümmern liegt. Ein Vater, der nicht der Vater ist. Der echte biologische Erzeuger vor Jahren gestorben, ohne seinen Sohn je zu Gesicht bekommen zu haben. Gewissheiten, die plötzlich nichts mehr wert sind. Aber der Wille, sich nicht aufzugeben. Das waren Emotionen, die auf mich damals dieselbe nachhaltige Wirkung ausübten wie auch heute noch – obwohl ich Gott sei Dank nie selbst mit derartigen Erfahrungen konfrontiert war. Was hier verhandelt wird, sind universelle Empfindungen, die Pearl Jam frei von jedem Kitsch und Pathos in ein Gerüst gegossen haben, das nichts von seiner Grandezza verloren hat.
Klar, aus heutiger Sicht mag die Produktion des Songs etwas angestaubt daherkommen – ein Umstand, den die Band selbst übrigens schon lange erkannt hat und in der Neuauflage des Debütalbums "Ten" zum 20jährigen Jubiläum im Jahr 2011 korrigiert hat. Aber selbst unter der etwas zu verhallten Aufnahme ist die Leidenschaft der Musiker unüberhörbar. Dieses Lied beißt, kratzt, kämpft. Immer noch. Welcher Song kann von sich behaupten, 25 Jahre nach seinem Erscheinen noch so frisch zu klingen? Aber eigentlich wollte ich ja gar nicht darüber schreiben, was diesen Song so gut macht. Das soll jeder für sich selbst herausfinden.