Wenn es einen Rocksong gibt, auf den die Bezeichnung "anmutig" zutrifft, dann ist es "The Greatest View". Wohl nie zuvor löste sich eine Band auf so großartige Weise vom Image ihrer Jugendjahre.
Silverchair: Wenn die Teenager-Raupe zum Schmetterling wird
Machen wir uns nichts vor: Viele von uns neigen dazu, die Teenagerjahre zu verklären. Je älter man wird, je stärker man in der Knochenmühle namens Alltag drinsteckt, eingepfercht zwischen wichtigen Projektmeetings und After-Work-Fitness, um den gefährlich wuchernden Bierbauch zu bekämpfen, desto glorreicher mag die eigene Jugend erscheinen, als man mehr oder weniger frei über seine Zeit verfügen konnte.
Was waren das für geile Parties, denkt man sich. Die Besäufnisse - Alter! Die einzige Sorge war, ob die Eltern einen um zwei Uhr früh noch aus der Dorfdisco abholen oder ob man doch lieber zurück nach Hause trampt. Was in dieser romantischen Rückschau aber regelmäßig zu kurz kommt, sind die weniger schönen Dinge. Die Akne, der Stress in der Schule, die unerwiderte Schwärmerei für die Klassenschönste, die generelle Unsicherheit darüber, was man eigentlich später mal mit sich anfangen soll. Nein, es war nicht alles Gold damals. Und irgendwie kann man schon froh sein, dass man sich weiterentwickelt hat, nicht mehr die selben Ansichten wie sein fünfzehnjähriges Ich hat und erst recht, dass man nicht mehr die selben Klamotten trägt.
Was das alles mit Silverchair zu tun hat? Auch bei der australischen Band verklären immer noch viele Fans die frühen Jahre. Was ein Stück weit verständlich ist. Denn die drei Musiker waren selbst erst knappe fünfzehn, als sie Mitte der 90er mit wuchtigen Grunge-Hits wie "Tomorrow" oder "Israel's Son" Weltruhm erlangten. Sängerknabe Daniel Johns sah aus wie der junge Kurt Cobain und brach mit seinem milchgesichtigen Rebellen-Charme reihenweise Mädchenherzen. Für Millionen Gleichaltrige waren Silverchair echte Identifikationsfiguren. Aber bereits als sich das dritte Album "Neon Ballroom" 1999 ein Stück weit vom simplen Depri-Grunge der Anfangsjahre verabschiedete und neue Ansätze ausprobierte, wandten sich viele Silverchair-Fans enttäuscht ab. Das war dann die Fraktion, die auch heute noch mit Ende Dreißig ausschließlich Alice in Chains und Mudvayne hört und das ausgewaschene Misfits-T-Shirt immer noch mit Stolz über den Bierbauch stülpt.
Silverchair hatten jedenfalls Blut geleckt und experimentierten weiter: 2002 erschien mit "Diorama" das Album, mit dem sie endgültig als Schmetterlinge aus dem Kokon schlüpften.
Auf "The Greatest View" findet die Energie plötzlich ein sinnvolles Ziel
Wo einstmals wütende Gitarren über simple Rhythmen lärmten, wo Daniel Johns einst über Selbstmord sang und jaulend das "Pure Massacre" beschrieb, waren plötzlich sanfte Orchester-Klänge zu hören. Schmiegten sich anmutige Gitarren an bluesige Klaviertöne. Dauerten Lieder fünf bis sechs Minuten, waren die Arrangements komplex und die Gefühle in den Texten tiefschichtig. Für nicht wenige altgediente Silverchair-Hörer war der Fall klar: Mit "Diorama" hatte die Band ihre Wurzeln endgültig verraten. Hatte sie selbstverständlich nicht. Ganz im Gegenteil: Silverchair klangen nie befreiter, nie reifer, nie besser als auf diesem Album. Auch nicht auf dem Nachfolger "Young Modern", der ein wenig ziellos daherkam. Aber hier passt alles, sind Silverchair aufregend wie nie zuvor. Am aufregendsten klingen sie dabei auf der vorab veröffentlichten Single "The Greatest View".
Ich habe lange überlegt, aber mir fällt eigentlich kein anderer Rocksong ein, zu dem das Adjektiv "anmutig" so perfekt passt wie zu "The Greatest View". Hier stimmt einfach alles: Wie sich Bläser und Gitarren im Intro gegenseitig anfeuern, ist bereits große Kunst. Der treibende Rhythmus macht gleich klar, dass Silverchair ihre Wurzeln keineswegs verloren haben. Und dann die Melodie. Schon die Strophen gehen ins Ohren, aber es ist der zuckersüße und gleichzeitig dramatische Refrain, in dem Daniel Johns seine Stimme voll ausbreitet, der dem Ganzen die Krone aufsetzt: "I'm watching you / watch over me / and I got / the greatest view from here".
All die Stinkstiefel, die Silverchair wegen ihrer Weiterentwicklung zu Weicheiern abgestempelt haben, hätten zudem nur einmal mit offenen Ohren die Bridge zwischen zweitem und drittem Refrain hören müssen, um zu erkennen, dass die Wucht der Anfangsjahre keineswegs weg war. Es knallt schon noch ordentlich. Nur halt viel anmutiger als früher. "The Greatest View" ist - Jugenderinnerungen hin der her - der beste Silverchair-Song und ein Musterbeispiel dafür, wie man sich als Band positiv weiterentwickeln kann. Und erwähnte ich bereits, dass es ein sehr anmutiges Rocklied ist?