Ich war damals weder jung noch dumm. Denn damals war ich nur etwa ein knappes Jahr jünger als jetzt, und ich hatte auch schon genug über die Flüchtlinge gelesen. Beinahe täglich, in gedruckter Form oder in den Online-Medien. Ich war informiert.

Ich wusste Bescheid über die Menschen, die aus so genannten Krisengebieten zu uns kommen, auf der Suche nach Sicherheit und einem irgendwie gearteten besseren Leben. Es war mir, wie den allermeisten Münchnern, bewusst, dass in der Bayernkaserne tausende Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht waren. Auf einem tristen und trostlosen Areal im Norden der Stadt, weitab von der glitzernden Pracht der Innenstadt, von Isarufer, Frauenkirche und Friedensengel. Abgesondert von uns normalen Bürgern, die wir täglich zur Arbeit gingen und noch nie vor einer Fassbombe hatten fliehen müssen, mit kaum mehr als den Klamotten am Leib. Das war alles bekannt. Ebenso die Tatsache, dass die Zustände in der Kaserne sich stetig verschlimmert hatten, bis sie untragbar wurden, dass sich dort viel zu viele Menschen auf zu engem Raum aufhalten mussten, dass die hygienischen Bedingungen mangelhaft waren. Selbstverständlich wusste ich auch darüber Bescheid, dass der Oberbürgermeister höchstpersönlich in der Kaserne gewesen war, um sich ein Bild von der Situation zu machen, und dass er, seine Befugnisse damit eigentlich überschreitend, einen Aufnahmestopp verhängt hatte. Dass er hinterher sichtlich verärgert in die Kameras gesprochen hatte, und man ihm die Entrüstung und die persönliche Betroffenheit durchaus abgenommen hatte. So könne es nicht weitergehen, hatte er sinngemäß gesagt, und der eigentlich zuständigen Regierung war keine andere Wahl geblieben, als kleinlaut beizupflichten und sich um den Aufbau einer besseren Infrastruktur für die Unterbringung von Flüchtlingen zu kümmern. Das war mir also alles klar, ich war auf dem neuesten Stand und ging keineswegs blauäugig durch die Welt.

Und doch traf es mich unvorbereitet, als ich im Spätsommer 2014 nachts auf der Leopoldstraße spazierte, nördlich der Münchner Freiheit, unweit meines Wohnhauses. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, die Straßenlampen leuchteten, die Luft war mild. Da fiel mir ein Bus der Verkehrsgesellschaft auf, der in nördlicher Richtung fuhr, auf mich zu und an mir vorüber. Zunächst irritierte es mich, dass auf der digitalen Anzeige keine Liniennummer zu lesen war. Gar nichts stand dort, nicht einmal "Einrückfahrt" oder "Kein Linienbetrieb". Einfach nichts. Dann bemerkte ich, dass es im Inneren des Busses stockdunkel war. Nur der Fahrer wurde schwach angeleuchtet, sonst waren alle Lampen aus. Oder waren sie kaputt, wie auch die digitale Anzeige? Dann sah ich im Widerschein der Straßenlampen drinnen Menschen stehen und sitzen. Menschen mit dunkler Hautfarbe, die Rucksäcke oder Taschen trugen. Ich konnte Konturen ausmachen, abgezehrte Gesichter mit Augen, die durch die Scheibe müde ins Nichts blickten. Einen Mann sah ich, der seinen Kopf an die Scheibe gelehnt hatte. Womöglich schlief er. Erst nachdem der Bus über die nächste Kreuzung gefahren war, meinem Blickfeld entschwunden, auf dem Weg in Richtung Freimann und Bayernkaserne, erst jetzt begriff ich vollends, dass das keine normale Fahrt der Linie 142 gewesen sein konnte. Sondern dass sich in dem Bus Flüchtlinge befanden. Zum ersten Mal hatte ich aus nächster Nähe die Menschen aus den Krisengebieten gesehen. Die, die nach wochenlanger Flucht und Irrwegen am Hauptbahnhof ankamen, dort kurzerhand in einen Münchner Linienbus verladen und mit abgeschaltetem Licht durch die Stadt chauffiert wurden, vorbei an prachtvollen Bauwerken und Sehenswürdigkeiten wie dem Siegestor. Hinter der Scheibe in einer abgetrennten Welt.

Ich war weder jung noch dumm. Doch erst an jenem Abend wurde das abstrakte Wissen über Flucht, Vertreibung, Krieg und Angst in meinem Kopf wirklich greifbar und lebendig. Weil ich Menschen in einem Bus sah. Manchmal staune ich darüber, wie wenig es braucht, um Elfenbeintürme zum Einsturz zu bringen.

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