Gäbe es ein großes Familientreffen der Oasis-Songs, irgendwo in einem Pub in Manchester, dann wären die Rollen klar verteilt.
Im absoluten Mittelpunkt stehen natürlich die erfolgreichen Geschwister aus den Neunzigern. Ohne sie geht hier nichts, sie unterhalten das Fest quasi im Alleingang. Makellos gealtert, besitzen sie noch fast die betörende Ausstrahlung von damals, als ihnen Frauen (und Männer) scharenweise kreischend nachliefen. Wildfremde Menschen klopfen ihnen beim Fest bewundernd auf die Schultern und sagen: „Ihr wart die Helden meiner Kindheit! Mensch, wisst ihr noch, damals … das war schon toll!“. Jeder beneidet ihr immer noch sehr gepflegtes Erscheinungsbild und wünscht sich insgeheim, einmal so geliebt zu werden wie sie damals und heute noch. Fast schon ehrfürchtig spricht man ihre Namen aus: „Live Forever“, „Don't Look Back in Anger“, „Wonderwall“, „Some Might Say“, „Roll With It“, „Rock & Roll Star“, „Champagne Supernova“ oder „Whatever“.
Daneben kauern, etwas weggeduckt, die Problemkinder von damals. Hinter vorgehaltener Hand nennt man sie nur die "missratene Bagage". Man musste sie halt einladen, sonst hätte es Ärger gegeben. Ende der Neunziger schmissen sie eine wilde Drogenparty nach der nächsten und behaupteten großkotzig, die Welt würde ihnen gehören. Nachdem der große Rausch vorbei war, wurden sie auf kalten Entzug gesetzt, seitdem meidet der Rest der Familie so gut es geht den Umgang mit ihnen. Gemeint sind die Lieder von „Be Here Now“, allen voran der schon damals als Egomane berüchtigte „D'you Know What I Mean“.
Ein bisschen abseits davon stehen, etwas verloren, die Familienmitglieder der jüngsten Generation wie „The Shock of the Lightning“, „Lyla“, „The Importance of Being Idle“ oder „Let There Be Love“ herum. Große Probleme gab es mit ihnen nie, ganz im Gegenteil. Sie laufen stets adrett gekleidet durch die Gegend und vermeiden den ganz großen Exzess. Die Familie respektiert sie zwar, stößt gerne mal mit ihnen an und hört ihren Geschichten zu – aber von der Aufmerksamkeit, die ihre älteren Verwandten aus den Neunzigern bekommen, können sie nur träumen. Deutlich selbstbewusster stehen da schon die etwas älteren Brüder und Schwestern „The Hindu Times“, „Stop Crying Your Heart Out“, „Little By Little“ und „Songbird“ am Tresen. Sie müssen sich vor den ganz Alten nicht verstecken, bekommen beinahe so viel Bewunderung ab und dürfen bei der Musikauswahl des Familientreffens auch mal mitbestimmen – was ansonsten ein klares Vorrecht der Neunziger-Generation ist.
Bis heute ungeliebt: Die Lieder von "Standing on the Shoulder of Giants"
Im hinteren Eck des Pubs finden wir zu guter Letzt die Außenseiter und Eigenbrötler: die pickeligen Cousins von der Jahrtausendwende und dem Album „Standing on the Shoulder of Giants“. Müsste man auf dem Weg zum Klo nicht an ihnen vorbeigehen, hätte man ihre Anwesenheit glatt vergessen. Dabei waren „Who Feels Love“, „Sunday Morning Call“ oder „Go Let it Out“ früher mal durchaus beliebt. Aber sie haben halt wenig aus sich gemacht und verschwanden in der Versenkung, als der jüngere Nachwuchs kam. Beim Familientreffen sind sie eher lästiges Anhängsel denn wichtiger Bestandteil.
Genau um einen dieser pickeligen Cousins soll es hier gehen. Denn ich bin der Meinung, dass die im Februar 2000 erschienene Single „Go Let it Out“ zu Unrecht mit relativer Missachtung gestraft wird. Ich halte den Song für einen der absolut besten in der Post-“Morning Glory“-Ära, der den Vergleich mit den Großtaten der ersten zwei Oasis-Alben nicht scheuen muss. Obwohl – oder weil - „Go Let it Out“ dem Bandsound eine dezente Frischzellenkur verpasste und mit alten Formeln brach.
Dabei kann man nicht behaupten, dass die Single damals ein Flop war. Ganz im Gegenteil - sie war ein veritabler Hit. Platz 1 im Vereinigten Königreich, in Irland, Italien und Spanien. In Deutschland, wo es gute Songs als Singles traditionell schwer haben, immerhin Platz 31. Gold-Auszeichnung im UK. Aber im kollektiven Gedächtnis ist „Go Let it Out“ heute viel weniger präsent als die Evergreens der Jahre 1995/96. Woran liegt das? Vielleicht daran, dass „Standing on the Shoulder of Giants“, zu dem „Go Let it Out“ der Vorbote war, bis heute einen schweren Stand bei den Fans hat.
Nach den Drogenexzessen Ende der Neunziger und dem Abschied der Oasis-Gründungsmitglieder Bonehead und Guigsy markierte das Album einen Neubeginn. Und einen – nicht immer hochklassigen - Wendepunkt im Band-Katalog. Vielen Songs hört man an, dass Noel Gallagher selbst nicht genau wusste, in welche Richtung es künftig gehen soll. Das Ergebnis war oft deutlich psychedelischer als früher, besonders in der zweiten Single „Who Feels Love“ mit starker Indien-Schlagseite. Daneben versammelte das Album aber noch eher eindimensionale Rocker wie „Put Yer Money Where Yer Mouth Is“ oder „I Can See a Liar“, die Noel ein paar Jahre davor nicht einfach so herausgerutscht wären. Nicht zu vergessen „Little James“, den allerersten jemals veröffentlichten Oasis-Song, der nicht aus seiner Feder stammte, sondern aus der seines Radaubruders Liam Gallagher. Schon anno 2000 zerrissen sich nicht wenige das Maul über die zuweilen unbeholfene Ode des Sängers an seinen kleinen Sohn, in der „plasticine“ auf „tambourine“ gereimt wird. Tja, und so richtig gut gealtert ist das Lied auch nicht.
Laute Gitarren, starker Refrain, bissiger Gesang - was "Go Let it Out" zum Klassiker macht
Dabei darf man aber keineswegs vergessen, dass „Standing on the Shoulder of Giants“ durchaus brillante Momente hatte. Ich denke da an den fast schon aggressiv groovigen Opener "Fuckin' in the Bushes", an „Sunday Morning Call“, das zu Noel Gallaghers größten Pop-Momenten gehört, an das sechsminütige Gitarren-Epos „Gas Panic!“ – und eben das erwähnte „Go Let it Out“.
Viereinhalb Minuten lang spielen Oasis hier alle Stärken aus, die man der Band jemals unterstellen durfte: Liam Gallaghers Gesang klingt bissig und konzentriert, die Gitarren sind laut, der Refrain ist stark und einprägsam und die Lyrics ebenso konkret wie schwurbelig. „Life is precocious in the most peculiar way / Sister psychosis don't got a lot to say“, presst Liam da etwa heraus, neben großartigen Zeilen wie „Is it any wonder why princes and kings / are clowns that caper in their sawdust rings? / Ordinary people that are like you and me / We're the keepers of their destiny“.
Ich finde an diesem Song so vieles gut. Den Auftakt mit dem lässigen Drumloop, der nach einer knappen halben Minute, von einem wummernden Bass angetrieben, in den Vollgasmodus übergeht. Liams kurzes „Uh!“ am Ende des ersten Refrains. Den Instrumental-Teil, bevor das Outro mit Liams Mantra-artigem „Go let it out, Go let it in“ einsetzt. Das sägende Gitarrensolo, das Noel-Gallagher-typisch so simpel wie effektiv daherkommt. Und wenn man meint, dass schon alles vorbei ist, noch das kurze, repetitive Gitarrenlick, das schließlich sanft ausgeblendet wird.
Genau in solchen kleinen Details besteht auch die eingangs erwähnte Frischzellenkur. Alles klingt einen Hauch moderner und zeitgemäßer als noch die im klassischen Britpop verhafteten Songs aus den Neunzigern. Das wiederum macht „Go Let it Out“ zwar deutlich anfälliger fürs Veralten – heutzutage würde vermutlich niemand mehr einen solchen Drumloop einsetzen. Aber dieses Schicksal ist dem Song erspart geblieben. Im Gegenteil: Er klingt kraftvoll und frisch wie am ersten Tag. Ich kann mich noch erinnern, wie ich mit 17 das Video zu „Go Let it Out“ auf MTV gesehen und das Lied auf Anhieb als richtig gut eingestuft habe. Daran hat sich bis heute nichts geändert. In meiner persönlichen Bestenliste der Oasis-Songs schafft er es jedenfalls mühelos in die Top 10. Pickel hin oder her. Ich würde ihm auf der Familienfeier auf definitiv einen Drink oder zwei ausgeben und ihn zu den alten Säcken in die Mitte holen. Damit er endlich die ihm gebührende Aufmerksamkeit bekommt.