Großartige Musik muss vor dem Vergessen gerettet werden: Aus diesem Grund schrieb ich vor über zwei Jahren einen Artikel über All About Ruphus. Jetzt gibt es ihr einziges Album komplett bei YouTube zu hören.

Fast 18 Jahre ist „Let's Go Get Lost“ von All About Ruphus mittlerweile alt. Weder von der Band noch von ihrer einzigen musikalischen Hinterlassenschaft hat irgendjemand außerhalb eines sehr engen Kosmos jemals gehört. Um das zu ändern, erzählte ich 2021 in einem längeren Text, was mir die Musik dieser Band bedeutet und welche persönliche Verbindung ich zu ihr habe. Das Ganze musste natürlich mit Klangbeispielen unterfüttert werden, also begann ich damals damit, Lieder des Albums bei YouTube hochzuladen. Nach vier Songs hörte ich auf – warum, entzieht sich inzwischen meiner Kenntnis. Jedenfalls habe ich das Versäumte nun nachgeholt.

Ich präsentiere also: das komplette Album „Let's Go Get Lost“ von All About Ruphus bei YouTube. In der Playlist sind die Tracks so angeordnet wie auf der CD: Sieben „richtige“ Lieder von teils epischer Länge und drei etwa einminütige instrumentale Zwischenspiele.

Im Folgenden stelle ich jedes der zehn Lieder kurz vor:

  1. "Approaching..."

Das Album beginnt mit verhallten Schritten, Klavierklecksern und einem leicht schiefen Cello. Irgendwer gießt sich ein Getränk ein. Dann fährt plötzlich ein Riss durch diese lauschige Atmosphäre, und der Wahnsinn nimmt seinen Lauf.

2. "Cancer Account"

Der erste richtige Song des Albums fällt mit der Tür ins Haus. „Cancer Account“ ist vielleicht der geradlinigste Rocksong auf „Let's Go Get Lost“. Mit seinem rotzigen Alternative-Sound wäre der Song 1995 im US-College-Radio bestimmt positiv aufgefallen. Die Gitarren versprühen zu Beginn einen fast schon funkigen Vibe, doch All About Ruphus wären nicht All About Ruphus, wenn die locker-flockige Atmosphäre nicht brachial niedergewalzt würde. Etwa nach der Hälfte der Spielzeit geht „Cancer Account“ in lautes, wütendes Geriffe über. „When I sing for my own, when I sing for my own“, schreit Andi Langhammer und stellt dann in einer großartigen Instrumental-Passage das Singen vorübergehend ganz ein.

3. "Helicopter Sunset"

Neun Minuten, 13 Sekunden. Doch trotz dieser epischen Dauer ist „Helicopter Sunset“ nur das zweitlängste Stück auf dem Album (zum Rekordhalter kommen wir ganz am Schluss). In diesem Riff-Monster legt die Band eine ganze Schippe Wut und Aggresivität drauf. Andi Langhammer darf stellenweise shouten, bis die Stimmbänder wund sind. All About Ruphus zeigen erstmals alle Facetten ihres Sounds: Viel Metal, etwas Prog-Rock, schrägen Post-Rock, eingängige Refrains. Etwa dreieinhalb Minuten lang geht das so – dann schwenkt der Song komplett um, es folgt ein langer, wunderschöner und berührender Zwischenpart mit Streichern, Klavier und lauschigem Gesang: „And I tried to speak to you / And I opened up the truth / It is something we may lose“. Gerade, wenn man glaubt, der Höhepunkt an Emotionalität sei erreicht, schlüpft „Helicopter Sunset“ in die nächste Haut: dumpfe Trommelschläge kündigen die Rückkehr der lauten Gitarrenriffs an und der Irrsinn beginnt von Vorne. Was für ein Meisterwerk.

4. "And I Watch the Beauty..."

Dieses kurze, filigrane Gitarren-Zwischenspiel leitet perfekt über zum nachfolgenden Song.

5. "Rose on a Field"

Wenn es auf „Let's Go Get Lost“ ein Lied gibt, das man guten Gewissens als Ballade bezeichnen kann, dann dieses hier. „Rose on a Field“ hat mit sanftem Geschunkel aber überhaupt nichts am Hut. Überhaupt ist dieser mit knapp drei Minuten fast schon knackig kurze Track, bei aller Melancholie, ganz und gar nicht frei von Wut. „It's time for my identity / For my own attitude / I don't know which to choose, which one is right.“ Es sind Textzeilen wie diese, die mich mit Anfang 20 tief im Inneren berührt und angesprochen haben. „Rose on a Field“ war immer einer meiner Favoriten auf dem Album – bestimmt, weil ich ihn auf der Akustikklampfe nachspielen konnte. Doch auch, weil er eine besondere Stimmung transportiert. Nebenbei mit knapp über drei Minuten der kürzeste „normale“ Song der Platte.

6. "Peter"

Der heimliche Hit und das vielleicht ungewöhnlichste Lied auf dem Album. Zwar beginnt „Peter“ zunächst mit einem typisch eingängigen Gitarren-Intro, doch dann schleicht sich plötzlich eine Trompete ein. Und wenn man meint, es ginge nicht mehr wilder, schüttelt die Band lateinamerikanische Rhythmen und funky Gitarrenklänge aus dem Ärmel. Klingt absurd? Inkompatibel zur übrigen Musik dieser Band? Falsch. Hier ist zu einhundert Prozent All About Ruphus drin. Letzte Restzweifel beseitigt der rasante Gitarren-ICE, der nach knapp viereinhalb Minuten über die Gleise gejagt wird. „Would you suffer the same?“, kreischt Andi Langhammer, und jeder Hörer würde sofort sagen: „Aber gerne doch!“ Am Ende darf noch einmal Samba getanzt werden. Einfach, weil die Band es kann.

7. "Inadequacy"

In meinem Blog-Artikel erwähnte ich anno 2021 die „brachial wütende Liebes-Anklage 'Inadequacy' mit den zugleich niedergeschlagensten und aggressivsten Passagen des gesamten Albums“.  Zwei Jahre später klopfe ich mir selber auf die Schulter und halte fest: das stimmt. Dieses Lied stellt zunächst die Frage, wie viel Moll ein Mensch ertragen kann. „I am not worth / that you longer concern“, lamentiert Andi Langammer über das schwarze Loch namens Liebe. Doch was folgt in solchen Situationen immer auf die Resignation? Richtig, die Wut. Und so schaltet „Inadequacy“ nach etwa vier Minuten plötzlich komplett um. Am Himmel zieht ein Metal-Gewitter auf. Mit Doublebass, aggressiven Gitarrenriffs, gekreischtem Gesang und genug Energie, um eine ganze Großstadt zu beleuchten. Und nachdem diese Windhose einmal quer über die Landschaft gefegt ist, keinen Stein auf dem anderen gelassen und uns bis auf den letzten Tropfen ausgequetscht hat, fällt sie am Ende in sich zusammen. Zurück bleiben weit offen stehenden Kinnladen. Vor Staunen, versteht sich. „Inadequacy“ ist mir von den gemeinsamen Auftritten mit All About Ruphus als besonders mitreißender Livetrack in Erinnerung geblieben.

8. "Let's Go Get ..."

Nach dem Kraftakt im letzten Song bringt dieses etwa einminütige instrumentale Zwischenspiel eine willkommene Verschnaufpause. Sanft gezupfte Gitarren lullen uns zwar wunderbar ein, doch wenn All About Ruphus dem Hörer bislang eines beigebracht haben, dann: Nichts bleibt, wie es ist.

9. "Scars"

Mit „Scars“ kündigt sich nämlich der schnellste und – gewagte Behauptung – der härteste Song auf „Let's Go Get Lost“ an. Ohne große Anlaufzeit geht es hier in die Vollen. Das Schlagzeug peitscht nach einem krachenden Einstieg einen fulminanten Beat herunter, und in wilder Hatz reiben sich die Gitarrenriffs aneinander wie Pinguine in einer arktischen Winternacht. Andi Langhammer geht beim Gesang komplett aus sich heraus. Und gerade, wenn sich die Gitarren dramatisch hochschrauben und erahnen lassen, dass jetzt alles vorbei sein könnte – da hängt die Band noch einen mehrminütigen atmosphärischen, ruhigen Part hintendran, in dem die angestaute Wut entweicht wie Luft aus einem löcherigen Ballon.

10. "Harmony of Death"

Und dann das. Das große Finale, in jeder Hinsicht.

Wie beschreibt man ein solches Lied? Wie fasse ich einen Song in Worte, der 15 Minuten und ebenso viele Sekunden dauert und sich trotzdem zu keiner Zeit redundant oder zu lang anfühlt? „Harmony of Death“ ist kein Epos im Stile von Radioheads „Paranoid Android“ mit höchsten musikalischen Ambitionen und atemberaubender Virtuosität. Aber trotzdem ein musikalisches Kunstwerk erster Güte, das sich nie wie „Kunst um der Kunst willen“ anhört. Ein Monument von einem Song, das in seiner Schlichtheit selbst große, etablierte und weltweit anerkannte Bands nur selten hinbekommen. All About Ruphus erschaffen mit vermeintlich einfachen Mitteln etwas, das viel Größer ist als die Summe seiner Teile. Im Grunde vereint dieses Lied alle Höhepunkte der vorigen Lieder, pickt sich die besten Parts heraus – die wilden Gitarrenriffs, die niedergeschlagenen, ruhigen Passagen, das Aufbäumen, das krachende Schlagzeug, den wütenden Gesang – und fügt sie in einem perfekten Rahmen zusammen.

Ja, dieses Lied ist keine einfache Kost. Wenn man den Text genau analysiert, so geht es darin um den Tod, vielleicht sogar um Suizid. Jedenfalls um Erlösung von einer schweren Last. Andererseits lässt der Text auch – typisch für All About Ruphus – viel Spielraum für Interpretation. Am besten ist es wohl, frei von jeglicher Deutung einfach die poetischen Textzeilen zu bestaunen:

„In a cathedral he lost his faith to crawl / in his slavery through years he never fought / isolation in a world of disbelief / someone said into his ear which days to bleed“

Oder diesen immer wieder aufblitzenden Optimismus:

„For myself / I will figure it out / don't know when, but I'm sure I'm about“.

2005 gewann die Band einen Talentwettbewerb in der oberbayerischen Pampa. Den Hauptpreis – eine Studioaufnahme eines eigenen Songs – lösten sie mit „Harmony of Death“ ein. Sie nahmen tatsächlich dieses 15-minütige Schurkenstück von einem Lied auf. Größenwahnsinnig? Vielleicht. Jedenfalls sagt es viel über das überbordende Talent dieser drei Musiker aus.

Mit einer letzten, ruhigen Passage geht „Harmony of Death“ nach über einer Viertelstunde zu Ende. Wer dieses Lied aufmerksam angehört hat, wird geplättet zurückbleiben.

Zeit, dass die Welt zuhört

Gleichzeitig endet damit auch ein Album, das mich nach fast 20 Jahren noch immer fasziniert und begeistert. Es wird kein zweites dieser Art mehr geben, denn All About Ruphus spielen schon lange nicht mehr zusammen und werden das auch nie wieder tun. Diese Band hatte nie großen Erfolg. Kaum jemand hörte das Album zu der Zeit, als es herauskam. All About Ruphus verkauften es im Eigenvertrieb bei ihren wenigen Live-Auftritten. Wie viele Menschen im Besitz der CD waren, kann ich nur schätzen. Es können höchstens hundert gewesen sein, vermutlich weniger. Kein Wunder, dass sich heute niemand mehr an "Let's Go Get Lost" erinnert.

Es ist jammerschade. Ein Unding. Und Zeit, dass sich das ändert.