Es kommt selten vor, dass eine Band im 23. Jahr ihres Bestehens einen Song veröffentlicht, der es mit den Werken aus ihren Anfangstagen aufnehmen kann. Pearl Jam ist es gelungen.

Wer erinnert sich an einen Song der Rolling Stones nach, sagen wir mal, 1981? Wer würde allen Ernstes behaupten, AC/DC haben seit 1990 auch nur ein relevantes Lied veröffentlicht? (Inwiefern Lieder von AC/DC überhaupt relevant sind, ist ein Fass, das ich an dieser Stelle nicht aufmachen will)

Gerade in der Rockmusik ist es doch so: Zu Beginn ihrer Karriere sind die meisten Bands jung, hungrig, unverbraucht. Sie haben nichts zu verlieren. Und im Optimalfall besitzen sie den Drang, es wem auch immer zu zeigen. Sie werfen also alles in die Waagschale, was sie zu diesem Zeitpunkt haben. Mit etwas Glück und wenn der Zeitgeist ihnen gewogen ist, klappt der Durchbruch. Je länger die Karriere der Band dann anhält, desto mehr geht es darum, das eigene Erbe zu verwalten. Viele schaffen das gut und nehmen weiterhin zumindest ordentliche Alben auf. Manche erfinden sich gar neu und erleben eine zweite Blütephase (an dieser Stelle gehen Grüße an Radiohead raus). Andere Gruppen werden mit den Jahren hingegen zunehmend irrelevant. Soweit die Theorie.

Pearl Jam: Auch nach der großen Phase gab es immer wieder Höhepunkte

Dass bei Pearl Jam die beste und wichtigste Phase der Bandgeschichte zwischen 1991 und etwa 1998 stattgefunden hat, werden die wenigsten Fans bestreiten. Alleine die bis 1994 veröffentlichten ersten drei Alben sind Meilensteine und werden sicherlich auch im nächsten Jahrhundert noch neue Hörer finden. Dass die Band ab „No Code“ (1996) experimenteller wurde und sich dann bei ihrer Neuerfindung ein wenig verrannt hat, war nicht dramatisch, weil eben weiterhin große Nummern dabei herumkamen, man denke nur an die wunderschöne Folkballade „Off He Goes“, an das philosophisch-düstere „Present Tense“, die Hymne „Given to Fly“, das zum unverhofften Pop-Hit mutierte Sixties-Cover „Last Kiss“ oder den räudigen Garagenrock von „Do the Evolution“.

Aber spätestens ab der Jahrtausendwende war offensichtlich: Pearl Jam waren einfach nicht mehr die wütende, vor Bühnenpower fast explodierende Grunge-Band der frühen Neunziger. Und warum hätten sie das auch sein sollen? Aus den Mittzwanzigern waren irgendwann Mittdreißiger geworden, dann Mittvierziger. Familien wurden gegründet, finanziell hatte man längst ausgesorgt, den Status als „letzte Überlebende der Grunge-Welle“ konnte ihnen niemand mehr nehmen. Alben wie das Anti-Bush-getriebene, teils schräge „Riot Act“ (2002), das vergleichsweise konventionell rockende „Pearl Jam“ (2006) und das als Pop-Experiment konzipierte „Backspacer“ (2009) hatten alle ihre Momente. Aber keiner dieser Momente kommt für mich an „Sirens“ heran, das 2013 als Vorbote zum bereits zehnten Album „Lightning Bolt“ veröffentlicht wurde.

Wo große Gitarren auf Lebensweisheit treffen

Auf 5 Minuten und 40 Sekunden Länge blitzt hier nochmal alles auf, was Pearl Jam so besonders macht. Für überlebensgroße Midtempo-Hymnen hatte diese Band schon immer ein Talent. Nun kann „Sirens“ natürlich unmöglich den Vergleich gegen „Alive“ gewinnen – auch bekannt als bester Rocksong der Geschichte. Das ist schon alleine deshalb ausgeschlossen, weil kein Feuer 23 Jahre später noch so lodert wie zu Beginn. Doch den Vergleich mit anderen Großtaten wie „Better Man“, „I am Mine“ oder „In Hiding“ braucht es nicht zu scheuen

Die Gitarren flirren und sägen. Das Pathos ist zwar vorhanden, wird aber wohldosiert eingesetzt. Die Melodie ist groß und wird im Refrain noch größer. Mike McCready haut ein wunderbar psychedelisch-verhalltes Gitarrensolo raus, das im besten Sinne an Pink Floyd erinnert. Und Eddie Vedder knurrt zwar nicht mehr so  herrlich wie noch Anfang der Neunziger, doch er ist immer noch ein erstklassiger Sänger, der den Refrain mindestens ein Stockwerk nach oben trägt. 2013 kann er mit der Weisheit des vom Leben gestählten Fast-Fünfzigjährigen darüber singen, wie zerbrechlich das Glück ist – und man glaubt ihm jedes Wort.

„For every choice, mistake I made, is not my plan /
To send you in the arms of another man /
And if you choose to stay, I'll wait, I'll understand
It's a fragile thing / this life we lead
If I think too much / I can't get over“

Man darf schon feststellen, dass Pearl Jam nie zuvor so nahbar geklungen haben. Vielleicht auch nie so kitschig, wobei das ein zu negatives Wort ist für diese emotional aufgeladene Liebeshymne. Jedenfalls klingen sie immer noch so, als hätten sie etwas zu sagen. Zwei Jahrzehnte nach ihrer größten Ära war die Band auf „Lightning Bolt“ immer noch relevant – selbst wenn dieses Album insgesamt eher von wechselhafter Qualität war. „Sirens“ sticht jedenfalls heraus: Ein abgeklärter, aber nie routiniert heruntergerotzter Song einer großen Band. Ein spätes Meisterwerk - und ein Lieblingslied.