An der Wand des mehrstöckigen Hauses, in dem ich wohne, direkt neben der Eingangstür, befindet sich eine große Werbefläche, die in unregelmäßigen Abständen mit überdimensionierten Plakaten zugekleistert wird. Seit mehreren Wochen hängt dort nun schon eine Werbung der Online-Datingplattform Parship. "Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single über Parship", ist dort als stolze Erfolgsmeldung zu lesen. Eine dank kostspieliger Grafiksoftware perfekt retuschierte, selbstbewusste Karrierefrau Anfang dreißig blickt dort mit sehnsuchtsvollem Blick in die Ferne. Keine Frage: Die ist verliebt!
"Donnerwetter!", denke ich mir jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse oder betrete und mein Blick auf das riesige Plakat fällt. Dabei finde ich nicht die Statistik an sich beeindruckend, sondern die generelle Tatsache, dass es neuerdings offenbar möglich ist, den Beginn einer Liebe exakt zu erfassen. Ich stelle mir das dann so vor, dass ein/eine Parship-Kunde/Kundin bei der Service-Hotline anruft und mit vor Glück bebender Stimme die frohe Botschaft verkündet: "Ich bin verliebt! Seit heute um 16:23 Uhr bin ich verliebt!"
"Toll!", erwidert die professionell freundliche Hotline-Mitarbeiterin am anderen Ende. "Das freut uns natürlich sehr, ist es doch der Beweis für die hohe Qualität unseres Angebotes. Dürfte ich nun nur noch fragen, woran genau Sie gemerkt haben, dass Sie verliebt sind?"
"Na, ich hatte da so ein flaues Gefühl im Magen, als ich die betreffende Person auf Ihrem Portal gesehen habe. Meine Sinne haben verrückt gespielt, mein Herz hat einen Satz gemacht, und…"
"Und Sie sind sich sicher, dass das um 16:23 Uhr war? Das ist wichtig für unsere Statistik, müssen Sie wissen. Könnte es nicht auch schon um 16:22 Uhr gewesen sein?"
Man merkt, worauf ich hinaus will. Eigentlich sind es sogar zwei Dinge: Erstens kann niemand sagen, wann genau er oder sie sich verliebt hat. Wer es doch tut, definiert für sich einen willkürlichen, vermutlich symbolischen Zeitpunkt, und das ist auch absolut in Ordnung so. Aber der Beginn einer Liebe – und das ist der zweite Punkt – ist nun mal nicht messbar wie der Zeitpunkt, an dem ein Flugzeug den Boden verlässt oder an dem Usain Bolt nach einem lockeren 100-Meter-Sprint die Ziellinie überquert. Deshalb ist die Werbebotschaft "Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single" nicht nur reichlich marktschreierisch, sondern auch irreführend. Wenn überhaupt, kann man höchstens messen, in welchen Abständen ein User auf dem Datingportal den Traummann oder die Traumfrau anschreibt und sich zu einem Date verabredet. Und selbst dann ist ja noch nicht gesagt, dass aus dem Rendezvous im Szenecafé wirkliche Liebe wird. Das alles ist dem Unternehmen mit Sicherheit bewusst. Wer weiß, vielleicht kooperiert Parship ja mit dem Bund Deutscher Philosophen und will mit den überdimensionierten Plakaten die Bevölkerung dazu auffordern, sich Gedanken über die Messbarkeit von Emotionen zu machen. Vielleicht ist das so, mit größter Wahrscheinlichkeit jedoch nicht. Von daher wäre ich geneigt zu sagen: Aus sprachlicher und logischer Sicht empört sich alle 11 Minuten ein deutscher Sprachkritiker über das Parship-Werbeplakat.
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