In den vergangenen Monaten hatte ich aus verschiedenen Gründen wenig Zeit für Aktualisierungen auf dieser Seite. Einer der Gründe war, dass ich viel gelesen habe. Und so macht es auch Sinn, dass ich mein langes Schweigen mit einem weiteren Post voller Buchempfehlungen breche. Die älteren werden sich erinnern: Das habe ich dieses Jahr schon einmal getan.
Chigozie Obioma – Der dunkle Fluss (atb)
Zu afrikanischer Literatur hatte ich bislang so gut wie keine Meinung. Der Grund ist denkbar banal: Ich habe kaum je ein Buch eines afrikanischen Autors gelesen. Das hat sich mit Chigozie Obiomas "Der dunkle Fluss" geändert. Als Einstieg in den Kosmos moderner afrikanischer Literatur ist diese düstere und teils brutale Familiengeschichte vielleicht nicht perfekt – aber es ist trotzdem ein mitreißendes Buch. Die Erzählung spielt im Nigeria der 90er Jahre, in einer Zeit als mit dem Erfolg der "Super Eagles" beim olympischen Fußballturnier von Atlanta und Neuwahlen im Land so etwas wie Aufbruchstimmung im bevölkerungsreichsten Staat Afrikas herrschte. Doch Nigerias Höhenflug war nicht von Dauer, und gewiss hat Chigozie Obioma seinen Roman als Parabel auf all die enttäuschten Hoffnungen und Nigerias schwere Krise angelegt. Die Familie des zehnjährigen Benjamin zerbricht, nachdem sich die Brüder dem Verbot des abwesenden Vaters widersetzen und am Fluss in ihrem Heimatdorf fischen gehen. Der banal wirkende Vorgang bildet den Startpunkt für das allmähliche Auseinanderdriften der Familie. Wahnvorstellungen nisten sich bei den Brüdern ein und machen sich erst auf der mentalen und dann auch auf der körperlichen Ebene bemerkbar. Am Ende bleibt so gut wie niemand unversehrt in der einst so glücklichen Familie. Ein beeindruckendes Debüt, wenn auch manchmal zu ausschweifender Brutalität neigend.
Clemens J. Setz – Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (Suhrkamp Verlag)
Dieser Roman und ich umkreisen uns schon seit der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2015. Damals war "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" in aller Munde, quasi DER Roman der Saison, und ich pilgerte auf meinen Streifzügen durch die Hallen immer wieder am Suhrkamp-Stand vorbei, immer darauf wartend, dass mich die über 1000 Seiten dicke Schwarte mit dem schwarzen Cover doch endlich genug anfixte, um sie käuflich zu erwerben. Aber es sollte damals nicht sein, die Gründe dafür liegen im Dunkeln, und vielleicht waren die Freimaurer Schuld. Im Nachhinein war es aber gut so, denn so brauchte ich mir in diesem Frühjahr bei Erscheinen der Taschenbuch-Ausgabe wenigstens nichts mehr vorzumachen. Auch zwischen leichteren Buchdeckeln ist Setz‘ Roman noch eine dicke Schwarte und eine Herausforderung. Aber eine, die sich von der ersten bis zur letzten Seite lohnt.
Die Lobeshymnen aus dem Jahr 2015 waren vollauf berechtigt. "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" ist ein zutiefst packender, in höchstem Maße verstörender Roman eines Autors, der über seltene Sprachgewalt und Erzählkraft verfügt. Wie Clemens J. Setz sich in den Kopf und die Gedanken der ungewöhnlichen Protagonistin Natalie Reinegger, einer 21-jährigen Betreuerin in einem Behindertenheim, hineinversetzt, wie er ihre bizarren Vorlieben für nächtliches "Streunen" durch die dunkle Stadt und nie endende Live-Übertragungen im TV schildert, ist einfach nur brillant. Und doch nur ein Aspekt in diesem Buch, das ja in erster Linie ein Stalking-Roman ist. Aber was für einer: Einer von Natalies "Bezugis", also Patienten, ist der an den Rollstuhl gefesselte Alexander Dorm, dessen früheres Opfer Christopher Hollberg ihn nun regelmäßig besuchen kommt. Dass Dorm einst Hollbergs Frau in den Suizid getrieben hat und dass dieser nun seinerseits seinen früheren Peiniger geradezu demütigt, was niemand außer Natalie zu bemerken scheint – diese Ausgangslage entfaltet eine unheimliche Kraft.
Clemens J. Setz war nicht umsonst schon mit mehreren Romanen auf der Short- bzw. Longlist des Deutschen Buchpreises vertreten. "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" ist trotz seiner auf den ersten Blick abstoßenden Thematik und der bizarren Charaktere sein vielleicht zugänglichster, mit Sicherheit aber epischster Roman. Trotz seiner Länge bestens lesbar und ganz großes Kino.
Georges Simenon – Die Katze (Diogenes Verlag)
Jeder, der sich ein wenig mit dem großen belgischen Autor befasst hat, weiß, dass Georges Simenon nicht nur Kriminalromane mit Kommissar Maigret geschrieben hat – wenngleich diese völlig zu Recht bis heute seinen Ruhm begründen. Doch neben den unzähligen Maigret-Krimis hat Simenon eben noch eine Fülle an "Non-Maigrets" verfasst, die sich zum Teil weit vom Krimigenre entfernen. "Die Katze" zählt wohl zu den bekanntesten davon und hat mit Mord, Totschlag und polizeilichen Ermittlungen überhaupt nichts zu tun. Das heißt, eigentlich doch, denn ein vermeintlicher Mord an einem Stubentiger ist der Ursprung für den schwelenden Hass zwischen den Eheleuten Emile und Marguerite Bouin. Seit Jahren schweigen sie sich nur noch an und unternehmen größte Anstrengungen, den jeweils anderen die persönliche Verbitterung spüren zu lassen.
"Die Katze" ist ein düsteres Psychogramm und seziert schonungslos die Enttäuschung und Ernüchterung im Leben zweier Menschen, die nicht mehr miteinander können und doch auch nicht ohne einander. Was andere Schriftsteller zu einem komödiantischen Stoff verarbeitet hätten – womöglich mit der Versöhnung als Happy End – gestaltet Simenon zu einem Zerstörungsroman aus. Ein extrem lesenswertes Buch, auch für alle, die in einer glücklichen Beziehung leben. Man möchte ja wissen, wie es auch sein könnte. Trotz der düsteren Thematik ist "Die Katze" überraschenderweise kein deprimierender Roman, sondern strahlt an manchen Stellen sogar so etwas wie echte Wärme aus. Klingt komisch – ist aber so.
Oskar Maria Graf – Anton Sittinger (dtv)
Ich gebe es ja schon zu, dass ich dieses Jahr ein wenig im Graf-Fieber bin. In erster Linie trägt die famose Ausstellung über Grafs Exiljahre im Münchner Literaturhaus Schuld daran, aber auch die BR-Doku von Andreas Ammer hat mein Interesse für diesen außergewöhnlichen Dickkopf wieder so entflammt, dass ich die noch nicht gelesenen Bücher aus dem Schrank geholt habe. Klar, "Wir sind Gefangene" kannte und schätzte ich schon davor – jeder sollte dieses autobiographische Werk über die Zeit des Ersten Weltkriegs und danach gelesen haben, und jeder sollte sich darüber freuen, dass Graf darin mit sich selbst kaum weniger schonungslos ins Gericht geht als mit den Eliten.
Aber sonst fehlten mir noch einige wichtige Romane aus seiner Feder. Also nahm ich mir den "Anton Sittinger" vor und wusste sofort wieder, warum dieser kantige Bayer auch 50 Jahre nach seinem Tod noch so relevant ist. Der Stil, in dem er das biedere Duckmäuser-Leben des pensionierten Postbeamten Sittinger und seiner Frau Malwine schildert, ist auf großartige Weise simpel. Graf hat einen einmaligen Blick für Charaktermerkmale und weidet die Schwächen und Stärken seiner Figuren genüsslich aus. Wie kaum ein zweiter Roman zeigt "Anton Sittinger", wie es möglich war, dass die nationalsozialistische Hass-Ideologie sich in der vermeintlich so beschaulichen und gefestigten bayerischen Dorf-Idylle mit ihren althergebrachten Strukturen durchsetzen konnte. Mir fällt nur noch Lion Feuchtwangers Meisterwerk "Erfolg" als Vergleich ein, das aber viel epischer angelegt ist als der "Sittinger". Genau deshalb ist Grafs Buch auch so wunderbar lesbar – es will keine große Literatur sein, sondern einfach eine verdammt gute Erzählung. Ist es auch.
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