Es gibt ein neues Unwort des Jahres, das eigentlich gar nicht so neu ist. "Gutmensch" wird schon seit Jahren für die Diffamierung weltoffener und hilfsbereiter Bürger mit liberaler Gesinnung verwendet. Doch wo der Begriff früher noch hauptsächlich in der rechten Ecke geäußert, beziehungsweise gebrüllt wurde, so hat er in den vergangenen beiden Jahren Eingang in die Mitte der Gesellschaft gefunden. Längst ist es für eine immer weiter wachsende Anzahl von vermeintlich "Unzufriedenen" und "Missverstandenen" zur Routine geworden, alle, die nicht mit ihnen gegen den angeblich unkontrollierten Zustrom muslimischer Gewalttäter hetzen, sondern sich für Kriegsflüchtlinge engagieren, als "Gutmenschen" zu bezeichnen – und somit als hoffnungslos verblendete Idealisten, die von ihrem rosa Schloss in den Wolken aus nicht sehen, was wirklich passiert. So steht das Wort sinnbildlich für die bedenkliche gesellschaftliche Entwicklung seit Beginn der so genannten "Flüchtlingskrise", was übrigens ebenfalls ein guter Kandidat für das Unwort wäre.
Die Denkweise der Rechten ist dabei – wenig überraschend – sehr simpel: Wer nicht der Meinung ist, dass alle muslimischen Männer potenzielle Sexualstraftäter sind, die mindestens abgeschoben, im besten Fall aber erhängt werden sollen, ist ein "Gutmensch". Wer nicht sieht, dass die deutsche Volkskultur, dieses hoch geheiligte Gut, durch die Einwanderung so vieler Menschen aus anderen Kulturkreisen in Gefahr ist, der ist ein "Gutmensch". Wer es mit sachlichen Argumenten versucht, zum Beispiel dass die Geflüchteten keine andere Wahl hatten, als ihr von Krieg zerstörtes Land zu verlassen, und dass wir Deutschen es gewiss nicht anders machen würden, wenn ein vom Ausland kräftig mitfinanzierter Bürgerkrieg unsere Existenz in einen täglichen Überlebenskampf verwandeln würde, oder wer behauptet, dass die so genannte "deutsche Leitkultur" ohnehin ein Gemisch verschiedener internationaler Einflüsse ist und im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert wurde, wer es also mit derartiger Argumentation versucht, ist sowieso ein "Gutmensch" und ein Schwächling noch dazu. "Latent verschwult", wie der anerkannte Gesellschaftswissenschaftler Prof. Dr. Akif Pirincci sagen würde.
"Gutmensch" ist also völlig zu Recht zum Unwort des Jahres gekürt geworden, denn es gibt daneben höchstens noch ein anderes Wort, das die gesellschaftliche Zerrissenheit und das auseinanderdriften der Wertvorstellungen im Jahr 2016 ähnlich gut abbildet. Und das ist "Wahrheit". Um deren Deutungshoheit geht es in den letzten Jahren plötzlich mehr denn je. Was einem nicht gefällt, ist nicht wahr, ganz einfach. Die neue Rechte im politischen Mainstream kanzelt ja schon seit längerem alle Fakten, die ihr nicht gefallen, als Produkt der "Lügenpresse" ab (übrigens das Unwort des Jahres 2014) und beruft sich statt dessen auf obskure Internetquellen oder verwackelte YouTube-Videos als Quelle der einzigen Wahrheit. Einer Wahrheit, die die systemtreuen Staatsmedien verschweigen wollen. So macht man es sich sehr einfach. Wenn es einem nicht gefällt zu lesen, dass braune Mobs in ganz Deutschland Flüchtlingsheime in Brand stecken, dann verkündet man eben eine eigene, "echte Wahrheit" zu den Vorfällen. So ein Wordpress-Blog über angebliche Pöbeleien syrischer Flüchtlinge gegen harmlose sächsische Rentner ist ja schnell geschrieben. Die "Lügenpresse" verschweigt diese Wahrheit natürlich, denn sie wird ja von "Gutmenschen" geleitet.
Nein, es ist manchmal wirklich nicht schön anzusehen, was mit unserer Gesellschaft passiert. Zum Glück sind die "Gutmenschen" noch immer in der klaren Mehrheit in diesem Land. Selbst furchtbare Vorfälle wie die in der Kölner Silvesternacht, die selbstverständlich drastisch geahndet werden müssen, werden daran nichts ändern. Sie tragen höchstens zur Verschärfung der Fronten bei – die neue Rechte, gegen alles "Anti-Deutsche" hetzend, auf der einen Seite, und auf der anderen die von der Rechten so genannten "Gutmenschen", die den Gedanken, Menschen in Not zu helfen, gar nicht abwegig finden. Und die sich auch schon vor den Ereignissen am Kölner Hauptbahnhof für die Belange der Frauen interessiert haben.