Projekt "Best Of": Ich stelle nacheinander meine Lieblings-Kurzgeschichten der Jahre 2013 bis 2017 online. Manche in Originalform, manche leicht überarbeitet. Dies ist Teil 1 der Reihe, hier gibt es alle Texte im Überblick

In der U-Bahn ist es gar nicht so laut wie man an einem Samstagabend vermuten würde. Weiter hinten höre ich zwar die obligatorischen Besoffenen, die um diese Uhrzeit eher nicht nach Hause fahren, sondern noch in die Schwabinger 7 oder eine andere Absturzkneipe weiterziehen. Aber um mich herum nur gedämpfte Unterhaltung. Zwei, drei Gruppen von müde wirkenden Partygängern reden leise miteinander, ein Pärchen knutscht, aber ansonsten ist wenig los. Der Zug hält an der Giselastraße. Draußen wankt einer auf dem Bahnsteig herum, der auf jeden Fall zu viel erwischt hat. Er will sich auf einen der Metallstühle setzen, schafft es aber nicht ganz und fällt wie ein nasser Sack quer über die ganze Sitzreihe. Zwei stark geschminkte Mädels in meiner Nähe kichern. Was geht denn mit dem ab, fragt eine. Dann fährt der Zug wieder langsam an, und die beiden widmen sich wieder ihren Handys. Ihre Party scheint wohl nicht aufregend gewesen zu sein, oder warum sonst sind sie um Mitternacht schon wieder auf dem Heimweg? Ich blicke durch den Gang bis zum anderen Ende des Zuges. Ganz weit hinten liegen sich zwei in Kapuzenpullis gekleidete Jungs in den Armen und grölen irgendeinen Fußball-Schlachtgesang. Die Computerstimme sagt die nächste Haltestelle an. Gemeinsam mit mir steigen die meisten Fahrgäste an der Münchner Freiheit aus. Und, siehe da, ich hatte richtig vermutet. Die Gruppe der besoffenen Jungs verlässt den U-Bahnhof wankend in Richtung Feilitzschstraße. Dort gibt es genügend Orte, an denen das Leben um Mitternacht erst beginnt. Ich sehe auf dem Monitor, dass mein Bus in acht Minuten fährt. Klar, um diese Uhrzeit fahren sie nur noch alle Jubeljahre, da habe ich ja fast noch Glück gehabt.
Hoffentlich kann Hanna so lange warten.
Ich sollte sie anrufen. Sollte sie fragen ob immer noch alles OK ist bei ihr. Ob der Typ nochmal geklingelt hat. Ich sollte ihr sagen, dass ich so schnell bei ihr bin wie ich kann. Aber ich tue es nicht.

Unschlüssig wiege ich das Handy in meiner Hand, als ich die Treppe nach oben zum Busbahnhof nehme. Die Luft ist angenehm kühl, vielleicht noch zehn, elf Grad. Nach dem stickigen Mief in der U-Bahn ist sogar an der Leopoldstraße die Luft der pure Genuss. Ich atme tief ein. Dann wähle ich Hannas Nummer. Während es klingelt, frage ich mich zum wiederholten Mal, warum ich das eigentlich mache. Wieso es nur einen Anruf gebraucht hat, um mich entgegen aller Vorsätze um halb zwölf Uhr nachts aus der Wohnung zu treiben, quer durch die Stadt von Sendling nach Schwabing. Zu Hanna. Nach allem, was zwischen uns passiert ist. Ich lasse dreimal, viermal läuten. Dann lege ich wieder auf. Nein, bei ihr ist alles in Ordnung. Sie hat sicherlich nur das Klingeln ihres Handys nicht gehört. Weil sie auf dem Klo war oder in der Küche, um sich einen Beruhigungscocktail zu mixen, oder was weiß ich. Vielleicht hat sie auch gerade aus dem Fenster gespäht und Ausschau nach dem Verrückten gehalten.
Ich taste unauffällig meine Jackentasche ab, bis ich das Taschenmesser spüre. Nur für den Fall der Fälle. Oben auf der Anzeige braucht der Bus immer noch sechs Minuten. Dabei stehe ich doch schon mindestens vier Minuten hier. Diese digitalen Minutenanzeigen sind doch alle großer Mist.
Neben mir hält sich eine junge Frau, etwa Anfang zwanzig und mit lasziv rot geschminkten Lippen, prüfend ihr Handy vors Gesicht. Immer wieder ändert sie den Winkel, hebt es erst höher, dann tiefer. Irgendwann kapiere ich, dass sie sich selbst fotografiert. Sie verzieht die Lippen zu einer Grimasse. Dann schürzt sie sie nach vorne. Sekundenlang steht sie so da, dann klickt es, na also. Was man halt so macht, kurz nach Mitternacht alleine an der Bushaltestelle. Vermutlich möchte sie ihren Freundinnen unbedingt noch ein total verrücktes Foto von sich schicken, bevor sie alle morgen wieder zurück müssen in ihre Bürokraft-Welt voller Termine, Besprechungen und überteuerten Smoothies in der Mittagspause.

Nicht meine Welt. Und Hannas Welt ist es auch nicht. Sie ist nicht so wie die Blondine hier neben mir, und sie war es auch nie. Hanna ist weiß Gott nicht perfekt, genauso wenig wie ich oder wie irgendein anderer Mensch. Aber ich kann sie mir nicht vorstellen, wie sie mitten in der Nacht alleine an der Bushaltestelle Grimassen schneidet und sich dabei fotografiert. So viel kann Hanna gar nicht trinken.

Ein älterer Typ zu meiner Rechten beginnt lautstark zu telefonieren. Was ist das für eine Sprache, die er da in sein Handy röchelt, türkisch, griechisch, kroatisch? Nein, kroatisch nicht. Griechisch vielleicht. Jedenfalls klingt er wütend, es gibt wohl Streit. Warum er das jetzt in dieser Minute und in dieser Lautstärke ausdiskutieren muss, erschließt sich mir nicht. Aber egal, ich habe meinen MP3-Player dabei. Der Shuffle-Modus ist eingestellt, und ich lasse den Zufallsgenerator darüber entscheiden, womit ich den verbitterten Griechen übertöne. Und die Maschine kramt aus den Untiefen meiner Musiksammlung tatsächlich Coldplay hervor. Ein schönes Lied, das ich ewig nicht mehr gehört habe. Dieses mächtige Schlagzeugintro mochte ich schon immer. "In My Place", so heißt der Song.
Ich schließe die Augen, blende alles um mich herum aus. Das selbstverliebte Partymädchen zu meiner Linken, den lauten Mann zu meiner Rechten. Das Abtauchen in die Musik hat mich in meinem Leben schon unzählige Male gerettet, es soll auch diesmal funktionieren. Laute Gitarren im Refrain. Was singt er da? "How long must you wait for it?" Sofort denke ich an Hanna, die ein paar hundert Meter nördlich von hier auf mich wartet. An ihren verzweifelten Anruf, an die Angst in ihrer Stimme. Sie hat in ihrer Not tatsächlich mich angerufen. Als ob es die Trennung nicht gegeben hätte, den Streit, die verletzenden Worte.

Mir wird bewusst, dass mein MP3-Player einen reichlich bizarren Sinn für den Moment hat. Unter mehr als eintausend Liedern in meiner Sammlung hat er mir ausgerechnet dieses ausgewählt. Hanna hat das Album ebenso geliebt wie ich. "A Rush of Blood to the Head". Wir haben es bestimmt an die hundert Mal gemeinsam gehört, im Auto, im Wohnzimmer, auf Kopfhörern im Luitpoldpark. Wie lange mag das her sein? Ich könnte vermutlich immer noch jedes Lied auswendig mitsingen. "Warning Sign". "Green Eyes". "Amsterdam". "The Scientist".
Ich schaue zur Anzeige hoch. Null Minuten. Aber kein Bus, ich sehe ihn nicht. Was soll das also, null Minuten? Endlich biegt der Bus im Hintergrund auf die Leopoldstraße ein. Als ich einsteige, mündet das Lied in sein großes Finale mündet. "Please, please, please, come back and sing to me." Tatsächlich werde ich gleich zu Hanna zurück kommen. Nicht, dass ich das gewollt hätte. Aber wie hatte sie es am Telefon formuliert? Ich brauche dich jetzt dringend als Freund. Bitte. Du musst kommen, ich habe Angst.
Jetzt komme ich, als Freund, nicht mehr als Verlobter. Dabei müsste es mir eigentlich egal sein, was in ihrem Privatleben schief läuft. Wir haben uns verdammt noch mal getrennt und sie hatte sehr schnell einen Ersatz für mich. Es sollte mir egal sein, dass mein Nachfolger offenbar ein Psychopath ist, der sie bedroht. Aber es ist mir nicht egal, und gerade das macht die Sache so unangenehm für mich.

Der Bus fährt ruckartig an. Ein Mann, der einen langen Ledermantel trägt und lange schwarze Haare, fällt beinahe um, kann sich aber gerade noch rechtzeitig an der Stange neben der Tür festhalten. Dann blickt er sich belustigt um. Zwei Frauen daneben prusten los. Sie tragen Miniröcke und hohe Stiefel, sind stark geschminkt und auch sonst der größtmögliche Gegensatz zu dem Kerl im Ledermantel. Und doch findet hier eine kurzzeitige Verbrüderung statt. Vor dem Fenster zieht die nächtlich leere Leopoldstraße vorbei. Nur vereinzelt sind noch Fußgänger unterwegs, Kneipenbesucher auf dem Weg nach Hause oder verliebte Paare, die aus der Kino-Spätvorstellung kommen. Mein MP3-Player hat jetzt eine Tocotronic-Nummer aus den Neunzigern gewählt. "Ich weiß nicht / wie konnte das geschehen / die Welt kann mich nicht mehr verstehen / Ich bin heute morgen aufgewacht / und es war schon mitten in der Nacht". Dazu verzerrte Gitarren, schepperndes Schlagzeug, Punk.
Endlich erreichen wir den Parzivalplatz. Ich steige aus und folge der Straße noch einige Meter. Als ich mich dem Haus nähere, in dem Hanna wohnt, atme ich noch einmal tief durch. Jetzt nicht nervös werden. Trotzdem halte ich reflexartig Ausschau nach einer verdächtigen Gestalt im Gebüsch. Wie heißt dieser psychopathische Kerl überhaupt? Karl, glaube ich, oder Carsten oder Christian. Ich weiß wenig über ihn, noch nicht mal genau wie er aussieht. Ich wollte mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben.
Ich überlege, wie ich mich verhalten soll, wenn er tatsächlich vor dem Haus steht und mich anspricht. Wenn er mich fragt, was ich hier zu suchen habe und ob ich zu Hanna will, ob ich ihr Ex bin, der ihr zu Hilfe kommt, was sage ich dann? Nein, ich bin nur ein Nachbar, der von einem geselligen Kneipenabend nach Hause kommt, ich habe mit Frau Reimann nichts zu tun? Soll ich sie verleugnen, damit mir der Psychopath nichts antut? Ich bin keiner, der sich prügeln kann. Ich weiß nicht genau, wie man jemandem die Faust ins Gesicht haut, habe es noch nie gemacht. Ich hasse die Konfrontation, ich will, dass sich alle vertragen. Genau das hat Hanna an mir ja immer kritisiert. Dass ich nicht emotional genug bin, mich nicht für Dinge einsetzen kann. Dass ich immer wegschaue, wenn es hart auf hart kommt. Sie liebt Übertreibungen. Wenn ihr im Restaurant etwas gut schmeckt, ist es immer gleich, Zitat, die beste Pizza Crudo aller Zeiten, oder der allerbeste Rotwein, den sie je getrunken hat. Normale Freude über etwas, das geht bei ihr nicht. Bei ihr regiert das Superlativ.

Hanna wohnt immer noch in der kleinen Seitenstraße. Zu dieser Zeit ist es hier totenstill. Wenige Meter hinter mir rauschen Autos und Busse über die Leopoldstraße, aber hier – nichts. Vor dem Haus lungert kein Verrückter herum. Vielleicht hat er aufgegeben. Oder Hanna hat ihm klargemacht, dass sie die Polizei ruft, wenn er nicht Leine zieht. Ich blicke hoch in den zweiten Stock. In Hannas Wohnung brennt noch Licht. Was, wenn er jetzt da oben ist? Vielleicht haben sie gerade Versöhnungssex. Könnte aber auch sein, dass er ihr in dieser Sekunde etwas antut, dass er sie an einen Stuhl gefesselt hat und ihr die Fußnägel ausreißt oder so etwas. Schwachsinn. Wie komme ich auf so einen Mist? Unschlüssig stehe ich vor dem Haus und traue mich nicht zu klingeln. Ich fühle mich fremd an diesem Ort. Dabei habe ich in der Wohnung da oben zwei Jahre lang gewohnt. Ich kenne jedes Zimmer, habe sogar den Geruch der Duftsteine im Klo noch in der Nase. Trotzdem fühle ich mich jetzt, wo ich zum ersten Mal seit dem ganzen Trennungsscheiß wieder hier bin, wie ein Eindringling.
In meiner Hosentasche vibriert das Handy. Hanna. Sie entschuldigt sich, sagt, sie habe es nicht klingeln gehört. Ist schon OK, sage ich, ich stehe übrigens gerade vor deiner Tür. Sofort taucht ihr Kopf oben am Fenster auf, sie winkt mir zu, die Tür vor mir summt.
Ich gehe hinein. Auch hier keine Spur von Karl oder Carsten oder Christian. Auch nicht in den dunklen Ecken des Hausflurs. Der Aufzug lässt auf sich warten, und als er dann endlich kommt, wirkt er träge und müde. Die Türen gehen nur halbherzig auf, so als arbeitete der Aufzug unter Zwang. Oben wartet Hanna in der offenen Wohnungstür auf mich. Sie trägt einen hellblauen Schlafanzug, der neu sein muss. Wobei, was heißt schon neu? Ich habe Hanna seit neun Monaten nicht mehr gesehen. Der Inhalt ihres Kleiderschranks dürfte sich in dieser Zeit verändert haben. Endlich, ruft Hanna mit brüchiger Stimme. Ihre Augen sind gerötet. Ich stehe vor ihr und frage, ob alles OK ist. Was natürlich eine selten dämliche Frage ist, denn wenn alles OK wäre, hätte sie mich nicht mitten in der Nacht angerufen. Hanna schüttelt nur den Kopf, und dann schlingt sie mir ihre Arme um den Hals und legt ihren Kopf an meine Brust. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, also drücke ich sie so lange stumm an mich, bis das Flurlicht mit einem Klicken erlischt.

Sie nimmt mich an der Hand und führt mich hinein. Ich erkenne die meisten Möbel sofort wieder. Sie hat nach der Trennung fast alles behalten, weil die meisten Möbel auch ihr gehören. Hanna hatte bereits einen Job, als ich noch studiert habe. Das erste halbe Jahr hat sie die Miete fast allein gezahlt. Ganz zu schweigen von den Lebensmitteln. Nur in der Kneipe habe ich immer selbst bezahlt. Das Wohnzimmer hat sich kaum verändert. Kurz wandert mein Blick rüber zum kleinen weißen Sideboard, und Hanna ertappt mich dabei. Das Foto ist nicht mehr da, sagt sie lächelnd. Oder hast du gedacht, ich würde es da stehen lassen, damit Kai immer an meine Vergangenheit erinnert wird? Ah, Kai, denke ich, so heißt der Kerl. Weil ich aber nicht über die Vergangenheit sprechen will und außerdem nicht weiß, worüber ich mit Hanna überhaupt reden soll, frage ich sie, ob Kai immer noch da draußen vor dem Fenster herumlungert. Ich hätte ihn nämlich nicht gesehen. Statt eine Antwort zu geben fragt mich Hanna, ob ich ein Bier möchte. Zwar hatte ich mir vorgenommen, wenigstens an diesem einen Tag in der Woche mal keinen Alkohol zu trinken, doch fände ich es unhöflich, einfach so abzulehnen. Also lasse ich mir von Hanna eine kühle Flasche in die Hand drücken. Trinkst du keines, frage ich sie. Sie schüttelt den Kopf. Kein Bedarf, sagt sie. Nicht jetzt. Nicht heute. Dann steht sie ein paar Augenblicke so da und blickt traurig ins Nichts. Schließlich greift sie den Faden meiner Frage von vorhin wieder auf.

Vor einer halben Stunde war er noch da, sagt Hanna. Er hat Steine ans Fenster geschmissen und mit einer Taschenlampe ins Zimmer geleuchtet. Außerdem hat er mich angerufen, vierzehn Mal innerhalb einer Stunde. Hier, schau selbst. Und sie hält mir das Display ihres Smartphones hin, ein neues Modell, wie mir auffällt. Ich lese den Namen Kai, mit einem Herz dahinter, und eine Reihe von Uhrzeiten. Lauter verpasste Anrufe. Und dann, fährt Hanna fort, den Blick auf die Wohnzimmerwand geheftet, hat er mir mehrere SMS geschrieben. Sie schweigt, und ich begreife, dass der Ball jetzt bei mir liegt. Was stand in den SMS?, frage ich. Hat er dich bedroht? Hanna nickt. Eine Träne rennt ihr die Wange runter. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals so gesehen zu haben, so hilflos, so gepeinigt. Ein Häufchen Elend steht vor mir, nicht zu vergleichen mit der Hanna aus meiner Erinnerung. Im Dezember hatte ich eine andere Frau hier zurückgelassen, als ich die Tür hinter mir zuschlug, vermeintlich für immer.

Wo ist er hin, frage ich sie - und sie deutet mit dem Kopf zum Fenster. Er hat vor etwa einer halben Stunde aufgegeben, sagt Hanna. Aber er plant etwas, ich spüre es. Der führt etwas im Schilde. Aber was denn, frage ich. Ich weiß es nicht, antwortet sie leise. Dann, fast flüsternd: Es ist so schrecklich. Hast du nicht die Polizei gerufen?, frage ich. Sie schüttelt den Kopf und ich frage, warum. Hanna zuckt mit den Schultern. Was soll ich denen denn erzählen? Dass da jemand vor dem Haus steht? Das ist doch nicht verboten. Aber die SMS, in denen er dich bedroht hat, was ist mit denen, sage ich. Hanna schluchzt laut auf. Sie lässt sich ins Sofakissen zurücksinken und lässt ihren Tränen freien Lauf. Ich stehe ziemlich verloren im Zimmer herum. Natürlich tut sie mir leid und ich weiß, dass ich sie trösten sollte. Aber es existiert nun mal diese unsichtbare Linie, die ich eigentlich nicht überschreiten möchte. Gibt es auf der Welt etwas Jämmerlicheres als ehemalige Paare, die in einem engen Raum aufeinander treffen? Ich starre auf das Etikett der Bierflasche und hoffe, dass die Situation vorüber geht.
Vorsichtig setze ich mich schließlich ans andere Ende des Sofas und berühre leicht Hannas Bein. Wie konnte ich nur so dumm sein, sagt Hanna mit brüchiger Stimme Wie konnte ich mich nur mit einem wie ihm einlassen? Seit ich ihn in mein Leben gelassen habe, will er mich kontrollieren. Er schaut heimlich, wem ich SMS geschrieben oder wen ich angerufen habe. Er will wissen, wo ich hingehe, in welchem Café ich mich mit Freundinnen treffe, einfach alles. Und seine wütende Eifersucht, wenn ich ihn mal nicht über jeden Schritt informiere. Wenn ich nur zwei Minuten später heimkomme als angekündigt, dann akzeptiert er keinen verspäteten Bus als Grund. Nein, dann habe ich ihn betrogen. Dann brüllt er herum und schubst mich gegen die Wand. Ich halte es nicht mehr aus! Ich...

Ich höre Hanna zu und sage nichts. Natürlich hatte ich keine Ahnung gehabt, was für ein Typ dieser Kai ist. Ich kannte ihn nicht, und auch jetzt würde ich ihn auf der Straße nicht erkennen. Hanna hat offenbar alle Fotos von ihm aus dem Wohnzimmer entfernt. Wenn es denn je gemeinsame Fotos gegeben hat. Ich trinke noch einen Schluck Bier, lege wieder meine Hand auf Hannas Bein. Es soll eine mitfühlende Geste sein. Doch wie soll ich ihr helfen? Ich kann sie nicht alleine retten. Klar könnte sie ein paar Tage in meiner Zweizimmerwohnung bleiben, aber wäre das die Lösung? Er könnte sie auch dort aufspüren. Außerdem möchte ich vermeiden, dass Hanna und ich auf blöde Gedanken kommen, wenn wir in Horrorfilm-Manier auf engstem Raum eingeschlossen sind. Ob Hanna bereit wäre, die losen Enden wieder aufzuheben, weiß ich nicht. Ich für meinen Teil möchte es nicht. Oder doch? Verdammt, ich habe keine Ahnung. Ich wollte mich jedenfalls nie in der Lage befinden, in der ich mich gerade befinde. Und man kann doch nicht einfach so an die Vergangenheit anknüpfen, an die Filmabende auf dem Sofa zu Zweit, an Coldplay und "A Rush of Blood to the Head", an die Ausflüge auf den Fröttmaninger Berg. Vor allem nicht nach dem jämmerlichen und unwürdigen Ende unserer Beziehung.
Hanna weint noch immer bittere Tränen in ihre Sofakissen. Ich sollte etwas tröstendes sagen. Meine Hand ruht noch immer auf ihrer Wade. Ein paar Minuten sitzen wir so da, dann geht Hannas Schluchzen in ruhiges Atmen über. Kurz meine ich, dass sie eingeschlafen ist, doch sie ist wach und blickt mich aus ihren verheulten Augen an. Warum bist du gekommen, fragt sie dann. Weil du mich darum gebeten hast, Hanna. Ich weiß, aber du hättest doch auch einfach absagen können. Wir sind seit einem Dreivierteljahr nicht mehr zusammen, wir hatten überhaupt keinen Kontakt mehr. Ich war mir sicher, dass du mich hasst. Wenn du dir so sicher warst, warum hast du mich dann angerufen, wende ich ein. Hanna starrt mich an, ich halte ihrem Blick stand, dann lächelt sie.

Ja, du hast Recht, sagt sie dann. Ich habe dich trotz allem angerufen. Weißt du, vielleicht war das mein Versuch, Abbitte zu leisten für das, was damals passiert ist. Wie es zu Ende ging zwischen uns.
Nun befinden wir uns auf Terrain, das ich eigentlich nicht betreten wollte. Doch aus dieser Sache werde ich nicht mehr herauskommen, ohne Hanna gegenüber sehr unhöflich zu sein. Und das möchte und kann ich nicht. Ich bin jemand, der es gewohnt ist, die Dinge über sich ergehen zu lassen.
Hanna schaut in mein Gesicht, als wäre es eine Schatzkarte, auf der es ein X zu entdecken gibt. Dann sagt sie, Weißt du, ich habe lange gebraucht, um darüber weg zu kommen, dass es mit uns nicht geklappt hat. Das hat mich echt fertig gemacht. Hat es das, frage ich. Die Frage rumpelt härter aus meinem Mund als beabsichtigt. Ja, antwortet Hanna. Aber du hattest doch bald einen Ersatz für mich, sage ich. Nicht sofort, antwortet sie, und dann: Ist es das, was du von mir denkst? Hast du geglaubt, ich hätte mich wegen Kai von dir getrennt? Irgendwie schon, sage ich. Und damit erzähle ich keine Lüge. Ich hatte tatsächlich all die Zeit mit dem Gefühl gelebt, gegen ein besseres Exemplar ausgetauscht worden zu sein.
Hanna schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Dann rutscht sie ganz nah an mich heran, und sieht mir wieder direkt in die Augen. Das stimmt aber nicht, sagt sie beschwörend. Kai kannte ich schon, als wir noch zusammen waren, das ist korrekt. Aber da war nichts. Wir waren Arbeitskollegen in der Agentur, aber eben nicht mehr. Und erst nachdem es mit uns zu Ende gegangen war, weil... Sie ringt nach Worten. Weil wir uns nur noch gestritten haben und uns alles missgönnt haben, bringe ich ihren Satz zu Ende. Ja, sagt Hanna und lächelt. Jedenfalls, danach ging es mir beschissen. Richtig dreckig. Und mit Kai habe ich einmal nach Feierabend über alles gesprochen. Über uns. Er war so nett und verständnisvoll, verstehst du? Ich nicke. Aber jetzt, sage ich, ist er nicht mehr so. Ich klinge wie ein Schauspieler in einem alten Film noir, als ich die Worte ausspreche.
Hanna blickt jetzt an mir vorbei zur Wand. Ein Fehler, flüstert sie. Ein dummer, dummer Fehler. Ich komme mir ein wenig schäbig vor, weil ich auf Hannas Worte mit so wenig Empathie reagiert habe.
Ich frage sie, ob sie die Coldplay-CDs noch hat. Hanna wirkt erstaunt. Mit dieser Frage konnte sie um halb zwei Uhr morgens auch nicht rechnen. Klar, sagt sie nach ein paar Sekunden Schweigen. Alle, frage ich. Sie nickt. Ich stehe auf und gehe zum CD-Regal, das noch am selben Platz steht wie damals. Die Coldplay-CDs habe ich nicht mitgenommen, sie gehörten Hanna. Nach kurzem Suchen finde ich das Album mit dem weißen Cover und lege es in den Player. Hanna sieht mir aus ihren immer noch geröteten Augen schweigend zu. Als das Schlagzeug-Intro erklingt, fängt sie an zu lachen. Dann steht sie auf, nimmt mich bei den Händen und tanzt mit mir durch das Zimmer. Und plötzlich singen wir beide mit und fühlen uns seltsam unbeschwert.

"I was lost / crossed lines I shouldn‘t have crossed". Plötzlich hat die Textzeile einen anderen Klang für mich. Die unsichtbare Linie zwischen uns verschwimmt und beginnt sich aufzulösen. Mein erstes Bier ist längst ausgetrunken, und auch die zweite Flasche ist schon halb leer. Hanna und ich sind plötzlich durch die Zeit zurückgereist. Wir liegen eng umschlungen auf dem Sofa und lachen. Es gibt keinen Kai mehr, die bösen Worte zwischen uns haben nie existiert. Ich genieße den Luxus, einfach an nichts bestimmtes zu denken. Ich empfinde pures Glück und möchte nicht, dass es aufhört.
Wir küssen uns und reden so vertraut miteinander, als hätte es damals meine Flucht am frühen Morgen nicht gegeben. Hanna will wissen, was ich all die Monate ohne sie getrieben habe. Ich erzähle ihr die ganze Wahrheit. Abgesehen von ein paar blöden Geschichten im Rausch gab es nichts. Ich verschweige Hanna auch nicht, dass ich meine Feierabende zuletzt immer öfter am Tresen kleiner Kneipen verbrachte und derzeit zu viel Alkohol trinke. Sie fährt mir mit der Hand über die Wange und sagt, dass alles gut werden wird. Nein, sie verspricht es mir.

Irgendwann merke ich, dass Hanna gleichmäßig atmet. Ich flüstere ihren Namen, bekomme aber keine Reaktion. Sie ist eingeschlafen. Kurz schließe ich die Augen, dann stehe ich langsam und vorsichtig auf. Ziehe mir Pulli und Jeans wieder an. Nehme meinen Schlüssel und schließe beim Verlassen der Wohnung leise die Tür. Draußen ist es immer noch dunkel. Die Uhr meines Handys sagt mir, dass es halb vier ist. Auf meinem Weg Richtung Leopoldstraße überlege ich, wie ich zu dieser beschissenen Uhrzeit am Besten nach Hause komme. Wird wohl auf ein Taxi herauslaufen.
Nach ein paar Schritten ruft jemand hinter mir etwas. Ich drehe mich um und begreife in der selben Sekunde, wessen Umriss ich aus dem Schatten treten sehe. Die Gestalt ruft mir etwas zu, das ich nicht verstehe. Dann noch einmal: Bleib‘ stehen. Der Typ kommt langsam auf mich zu. Kurz bin ich vom Schreck gelähmt, dann schaffe ich es, mich umzudrehen. Nach wenigen Schritten fange ich an zu rennen.

Kai schreit mir etwas hinterher. Ich drehe mich nicht um, sondern renne einfach weiter. Seine Schritte krachen nur wenige Meter hinter mir auf den Asphalt. Auf der Leopoldstraße biege ich, einer spontanen Eingebung folgend, nach links ab und sprinte einfach drauf los. In diesem Zwischenstadium zwischen tiefer Nacht und neuem Tag ist tatsächlich kein einziges Auto unterwegs. Die Straßenlaternen erhellen einen völlig leeren sechsspurigen Boulevard. Schon nach kurzer Zeit beginne ich zu keuchen und spüre ein Seitenstechen. Ich darf nicht aufgeben. Ich weiß, dass Kai bewaffnet ist und mich abstechen wird wie ein Schwein. Vor mir springt die Fußgängerampel am Ring auf Rot, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen ist. Ich blicke mich kurz um und renne dann hektisch nach links, wo hinter einer kleinen Anhöhe der langgezogene Petuelpark beginnt.
Zum ersten Mal drehe ich mich um. Kai hat mich fast eingeholt, nur noch wenige Schritte trennen uns. Verzweifelt versuche ich noch einmal, mein Tempo zu erhöhen. Doch schon bekommt er mich an der Schulter zu packen. Beim ersten Mal kann ich mich noch losreißen, doch seine Hand erwischt mein T-Shirt. Ich stürze zu Boden, er hinterher. Schon hat mich der Kerl im Schwitzkasten, und ich ringe panisch nach Luft. Ich weiß, ich werde ersticken. Elendig verrecken auf dem Kiesweg des Petuelparks, in den Händen eines Wahnsinnigen. Wir Japsen und Keuchen wie zwei Tiere im Todeskampf. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Selbst in den Hochhäusern direkt am Park brennt kein einziges Licht.
Plötzlich lockert Kai den Griff um meinen Hals, und nach wenigen Sekunden strömt tatsächlich wieder Luft durch meine Lunge. Ich falle auf den Rücken und keuche wie ein asthmakrankes Ferkel. Auch er sackt in sich zusammen. Ich kann sein Gesicht im schwachen Licht der Straßenlaterne kaum erkennen. Er richtet sich auf und blickt mich starr an. Was soll denn der Mist, bringt er heftig schnaufend hervor. Dasselbe könnte ich dich auch fragen, keuche ich. Warum rennst du denn davon?, fragt Kai und fügt hinzu: Ich wollte dich nur was fragen, Mann. Einfach nur was fragen. Mehr nicht. Warum die ganze Verfolgungsscheiße?

Verfolgungsscheiße, wiederhole ich. Ist das dein Ernst? Wer hat mir denn aufgelauert und mich verfolgt wie ein Irrer? Ist doch klar, dass ich da abhaue. Du hast nicht gewirkt, als würdest du nur reden wollen. Aber das will ich, sagt Kai, und seine Stimme klingt dabei überhaupt nicht wie die eines Psychopathen. Das kann allerdings auch an seiner Erschöpfung liegen.
Wir schweigen für ein paar Sekunden, dann sagt Kai: Ich weiß, wer du bist. Hanna hat oft von dir gesprochen. War das bevor du angefangen hast, sie zu stalken und zu belästigen, frage ich. Stalken?, fragt Kai und beugt sich näher zu mir heran. Hat sie das gesagt, oder wie. Dass ich sie stalken würde?
Ich kann zum ersten Mal Kais Gesicht erkennen. Er sieht aus wie ein Student im achten Semester. Dreitagebart, keine Piercings, weißes T-Shirt mit irgendeinem ironischen Spruch drauf. Ich hatte ihn mir anders vorgestellt, irgendwie maskuliner, bösartiger.
Naja, sage ich und richte mich ebenfalls auf, jederzeit bereit zu einer erneuten Flucht. Wie nennst du das denn, wenn man eine Person stundenlang durch das Fenster beobachtet, sie pausenlos anruft und mit SMS bedroht? Kai stockt. Bedroht?, ruft er aus. Ich soll Hanna bedroht haben?
Ich sage nichts, da ich keinen Schimmer habe, was hier vor sich geht. Kai fährt sich mit beiden Händen durch das Haar, zieht die Handflächen über sein Gesicht und schüttelt den Kopf. Hat sie dir die Nachrichten gezeigt, fragt er. Welche Nachrichten, frage ich zurück. Die SMS, in denen ich sie bedroht haben soll, sagt er. Ich schüttele den Kopf. Trotzdem glaubst du ihr, sagt er. Ich sehe keinen Grund, es nicht zu tun, antworte ich. Was hat dir Hanna über mich erzählt, will er wissen.
Warum soll ich ihn jetzt anlügen? Ich sage ehrlich, dass mir Hanna im Grunde nichts über ihn erzählt hat, außer dass sie Angst vor ihm hat und er sie geschubst haben soll.

Geschubst, schnaubt Kai. Geschubst. Er wiederholt das Wort ein drittes Mal. Entweder spielen der Alkohol und die Müdigkeit meinen Augen einen Streich, oder Kai ist kleiner geworden. In sich zusammengefallen wie eine morsche Scheune. Weißt du, fragt er mich schließlich, wann ich das letzte Mal in Hannas Wohnung war? Nein, sage ich. Vor zwei Monaten. Hat sie dich rausgeworfen, frage ich. Er schüttelt den Kopf. Dann sagt er: Wieso sollte sie das tun? Ich habe nie bei ihr gewohnt. Hä, sage ich, aber, ich meine, ihr wart doch zusammen, und ich dachte... Von wegen, sagt er. Wir hatten Sex miteinander, viermal, fünfmal, was weiß ich. Ich war wie ein Teenager in Hanna verknallt, und vermutlich bin ich es immer noch. Er ringt sich ein leises Lächeln ab.
Hanna ist immer zu mir gekommen, wenn ihr danach war, sagt Kai. Sie hat einfach bei mir geklingelt, oft auch mitten in der Nacht. Ich wohne hinten am Ackermannbogen – hier deutet er mit dem Finger in den pechschwarzen Himmel – und sie hat meine Wohnung lange Zeit als ihr zweites Zuhause betrachtet oder so. Ich hatte nichts dagegen, weil ich dachte, dass sich zwischen uns etwas entwickelt. Aber Hanna hatte nie Lust, sich über den Sex hinaus mit mir zu beschäftigen. Im letzten Jahr waren wir, glaube ich, nur einmal zusammen essen. Nie im Kino und in keiner Bar. So etwas hat sie nur mit ihren Freundinnen gemacht, denen sie vermutlich nie von mir erzählt hat.
Ich höre ihm schweigend zu. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass er mir Lügen auftischt. Aber ich kenne Hannas Persönlichkeit gut genug um zu wissen, dass sie in ihrer Mitte fein säuberlich in zwei Hälften geteilt ist. Die eine Hälfte ist die bezaubernde Person, mit der ich vorhin durchs Wohnzimmer getanzt bin. Die fürsorgliche, emotionale Hanna. Die andere Hälfte bringt Kai mir mit seinen Worten gerade wieder nahe. Ich hatte über einen langen Zeitraum Gelegenheit, beide Hälften zu studieren.
Einmal, fährt Kai in seiner Erzählung fort, vor knapp drei Monaten, habe ich es nicht mehr ausgehalten. Da habe ich ihr dann eine SMS geschrieben, in der stand, dass ich für immer abhaue, wenn sie mich weiterhin so behandelt. Dass ich den Job in der Agentur kündige und wegziehe, und dass sie sich jemand anderen für ihre Spielchen suchen kann. Ich habe alles ausgekotzt, was sich aufgestaut hatte.

Ich nicke und frage Kai, wie sie reagiert hat. Keine zehn Minuten später hat sie mich angerufen und war ganz reumütig, sagt er. Ich solle zu ihr kommen, damit wir über alles reden können. Und, bist du hin, frage ich. Klar, sagt er. Das war eine tolle Nacht. Unsere letzte gemeinsame Nacht. Dann schweigt er.
Ich sehe an ihm vorbei in den Himmel hinauf. Über den Dächern der Stadt bricht allmählich der neue Tag an. Dann mustere ich Kais Gesicht. Zum ersten Mal erkenne ich die tiefen Ringe unter seinen Augen. Das hier ist nicht seine erste schlaflose Nacht in letzter Zeit. Komm mit, sage ich und deute mit dem Kopf in Richtung der nächsten Parkbank. Die Kiesel knirschen müde unter unseren langsamen Schritten. Als wir nebeneinander Platz genommen haben, frage ich ihn: Also, warum wollte Hanna nach dieser Nacht nichts mehr mit dir zu tun haben? Was ist damals passiert?

Was passiert ist, sagt Kai und lacht heiser, als hätte ich etwas geradezu unerhörtes gefragt. Zum ersten Mal mustert er mich aus seinen müden Augen. Als du mit Hanna zusammen warst, fragt er mich dann, hattet ihr da eine Familie geplant? Du meinst, ob wir Kinder wollten?, frage ich. Ja, sagt er. Ich stammele mir eine Antwort zusammen, etwa in der Richtung, dass wir uns darüber eigentlich nie wirklich Gedanken gemacht hatten. Was auch stimmt. Vor allem am Ende waren Hanna und ich fast ausschließlich mit Streiten beschäftigt. Für Familienplanung war kein Platz. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass dieses Thema je zur Sprache kam. Und ich konnte mir Hanna als Mutter ebenso wenig vorstellen wie mich als Vater.
Aber je länger ich diesen Gedanken im Kopf wälze, desto klarer sehe ich, warum mir Kai diese Frage überhaupt gestellt hat. Du willst mir doch nicht etwa sagen, murmele ich in seine Richtung, dass Hanna... also... Ich kann den Satz nicht vollenden. Das Ganze ist einfach zu absurd. Aber Kai bringt zu Ende, was ich begonnen habe. Er nickt und sagt: Ja. Ganz genau das will ich sagen. Hanna ist schwanger. Sie erwartet mein Kind.
Ich verschränke die Arme hinter dem Kopf und starre mit offenem Mund in den anbrechenden Tag. Vor meinem geistigen Auge läuft der ganze Film noch einmal ab. Hanna, die keinen Alkohol trinken will. Hanna, ungewohnt emotional. Hanna, die in dem Wissen zu mir spricht, dass ihr die Kontrolle über das Schicksal dieses eine Mal entglitten ist. Die mich angerufen hat, um sich an mich klammern zu können, die Flaschenpost aus vergangenen Tagen. Und dann habe ich den einen, schrecklichen Gedanken: Hanna, die mir das Kind eines anderen Mannes unterjubeln will.

Ein einziges Mal hat mir Hanna noch geschrieben, sagt Kai leise. Da hat sie mir mitgeteilt, dass sie schwanger ist. Und dass sie jetzt Zeit braucht. Seitdem verweigert sie jede Kommunikation mit mir, seit mehreren Wochen. Kannst du nicht verstehen, dass mich das wahnsinnig macht? Ich nicke. Klar. Würde mir auch so gehen. Deshalb, sagt er, stehe ich mir vor ihrer Wohnung die Beine in den Bauch und versuche, sie zu bewegen, dass sie mich hereinlässt. Ich rufe sie ständig an, ich schreibe ihr zunehmend verzweifelte SMS, ich erniedrige mich. Es ist so jämmerlich. Mein Leben ist nicht mehr dasselbe wie davor, und ich will jetzt nichts sehnlicher, als mit Hanna eine Familie zu haben. Aber sie...

Schritte knirschen im Kies. Die erste Joggerin des anbrechenden Tages hüpft vorbei, nicht ohne uns einen fragenden Blick zuzuwerfen. Der erste Sonnenstrahl schiebt sich über die längliche Wiese des Parks. Es sieht umwerfend aus, doch ich empfinde gerade gar nichts mehr. Schweigend höre ich Kai zu, der, den Blick starr geradeaus gerichtet, weiterspricht. Alles, was sich in den vergangenen Wochen aufgestaut hat, sprudelt aus ihm heraus. Ein Mann, der sich um sein Recht gebracht sieht, der aber noch nicht verzweifelt genug ist, um sich mit Gewalt Zutritt zu Hannas Wohnung zu verschaffen. Es erschüttert mich, wie sehr ich mit Kai mitfühlen kann.
Ich begreife, dass ich jetzt nach Hause gehen und mich hinlegen sollte. Ich muss mir eine neue Handynummer zulegen. Vielleicht in eine neue Stadt ziehen. Hast du Lust, Frühstücken zu gehen, fragt Kai. Ich kenne da vorne ein gutes Café in der Hohenzollernstraße. Warum nicht, sage ich. Gut, sagt er. Wir stehen auf, ich starre in den mittlerweile strahlend blauen Himmel. Magst du eigentlich Coldplay, frage ich Kai. Coldplay, murmelt er. Nee, nicht besonders. Konnte ich noch nie so richtig ausstehen. Ein, zwei gute Songs, ja. "In My Place" mochte ich gern. Aber der Rest, damit konnte ich nicht so anfangen. Ich nicke und sage: Geht mir genauso.

(c) Mark Read 2017