Der einzige Hit der US-Rockband Fastball ist ein zeitlos schönes Stück Musik. Aber das ist nicht der alleinige Grund, warum ich mich nach 25 Jahren neu in diesen Song verliebt habe. Es geht hier nämlich auch um mein Gehirn.
Es geschah auf einer Klassenparty
Erinnerung, du faszinierendes Ding.
Es ist ja so: die Fähigkeit, sich an Begebenheiten, Orte, Gespräche oder Dinge zu erinnern, ist bei jedem von uns unterschiedlich ausgeprägt. Bei mir zum Beispiel so, dass ich einerseits ein extrem gutes Zahlen- und Faktengedächtnis habe. Ich weiß heute noch Telefonnummern von Schulfreunden, mit denen ich seit 1999 nicht mehr telefoniert habe. Und rattere auch problemlos ihre Geburtstage herunter. Andererseits muss ich jedes Mal, wenn ich mit dem Auto zur Zapfsäule fahre, hektisch überlegen, auf welcher Seite nochmal der Tankdeckel war. Ich kann es mir einfach nicht merken. Oder der Hausschlüssel. Wie so viele Männer trage ich ihn in der Hosentasche, wenn ich außer Haus bin. Eigentlich wäre es leicht, sich die Hosentasche zu merken. Was mich nicht davon abhält, in achtzig Prozent der Fälle raten zu müssen (links? rechts? hinten links? hinten rechts?).
Ebenso interessant finde ich, dass Erinnerungen die Fähigkeit besitzen, von den Toten aufzuerstehen. Eine banale Begebenheit kann etwas im Gedächtnis auslösen und eine längst verschüttete Erinnerung zurück ans Tageslicht holen. Als würde jemand mit einem Brecheisen eine Tür aufdrücken und den darin lagernden Schatz zugänglich machen. Das passiert allen Menschen in ihrem Leben mindestens einmal, und natürlich immer dort, wo man es nicht erwartet. Bei mir war es kürzlich eine Spotify-Playlist.
Und das kam so: Ich hörte mir irgendwelche Rock-Hits der 1990er Jahre an (ich bin inzwischen vierzig, ich darf nostalgisch werden) und stieß durch Zufall auf die Band Fastball. Der Name sagte mir etwas. Hatte ich mal irgendwo gelesen. Aber ein konkretes Lied kannte ich nicht. Das dachte ich zumindest.
Denn als ich „The Way“ streamte, klickte es im Gedächtnis. Mit Wucht schoss aus dem trüben Sumpf meiner Erinnerung etwas an die Oberfläche. Doch - und wie ich diese Lied mit dem wunderbaren Latin-Groove und dem Schunkelrock-Refrain kannte! Und ich konnte auch genau sagen, woher. Da sind wir wieder bei der Faszination Erinnerung, nicht wahr? Der Verfasser dieser Zeilen kann sich nicht merken, auf welcher Seite sich der Tankdeckel seines Autos befindet. Aber er kann sofort mit Bestimmtheit sagen, dass er vor vielen, vielen Jahren auf einer Klassenparty ein einziges Mal das Lied „The Way“ gehört hat.
Das muss in der zehnten oder elften Klasse gewesen sein, auf jeden Fall noch vor der Kollegstufe. Wir sprechen hier also etwa von der Jahrtausendwende, kurz nachdem Fastball mit diesem Song wochenlang die Spitze der „Modern Rock Charts“ in den USA belegt hatten. Übrigens ihr einziger Hit in den Vereinigten Staaten und natürlich auch bei uns.
Ich sehe die Holzhütte noch vor mir, in der die Party stieg. Dreißig, vierzig Leute drängten sich in den Gartenschuppen eines Klassenkameraden. Er wohnte in einem Weiler mitten im bayerischen Hinterland, an der B15 nahe Wasserburg. Im allerletzten Haus vor dem Wald. Weit und breit gab es keine Nachbarn, die man stören konnte – eine Location, wie geschaffen für Klassenpartys. Irgendwie auch gespenstisch in seiner Abgelegenheit, aber geil. Einer von uns musste damals dieses Lied auf einer gebrannten CD dabei gehabt und über die Anlage abgespielt haben. Und ich fand es gut, damals schon. Vielleicht fragte ich denjenigen sogar nach dem Songtitel, vielleicht sagte er ihn mir sogar – aber wahrscheinlicher ist, dass er ihn selbst nicht wusste.
Weit entfernt vom Post-Grunge-Zeitgeist
Ganz offensichtlich habe ich danach nicht weiter recherchiert. Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen, es gab keine Musik-Community (zumindest war mir keine bekannt) und generell hatte ich andere Dinge im Kopf (Frauen, scheiße aussehen, Fußball). Vermutlich war mir „The Way“ auch nicht wichtig genug. Erst der irre Zufall in der Spotify-Playlist setzte – über zwanzig Jahre später - etwas in mir in Gang.
Mein vierzigjähriges Ich nimmt dieses Lied nun mit aufrichtiger Begeisterung zur Kenntnis. Dazu wäre mein achtzehn- oder neunzehnjähriges Ich in seiner Nirvana-Phase kaum in der Lage gewesen. Ich werfe eine Münze ins Phrasenschwein und halte fest: Fastball haben mit „The Way“ natürlich das Rad nicht neu erfunden. Aber ihre Karre fährt auf diesem Rad sehr gut. Der Band gelingt hier etwas, das nur wenigen Bands der Post-Grunge- und Alternative-Rock-Ära gelungen ist: ein Stück Musik von zeitloser Schönheit erschaffen.
Der Grund: sie haben dem damals vorherrschenden Zeitgeist entsagt. Die lauten Bratz-Gitarren und überzeichneten Gesänge der ganzen Post-Grunge-Depris bleiben in „The Way“ draußen. Wenn überhaupt, orientiert sich die Band eher an ähnlich exzentrischen Zeitgenossen wie Eels oder Cake. Aber bevorzugt greift die Band bewusst auf Elemente der Siebziger zurück. Und das passt wiederum bestens zu dem wunderbaren Text, in dem Tony Scalzo, seines Zeichens Songwriter, Bassist und Sänger von Fastball, eine Geschichte erzählt. Eine sehr anrührende noch dazu, die auf einer echten Begebenheit beruht.
Ein Roadmovie mit ungewissem Ausgang
Während im realen Leben ein älteres Ehepaar aus Texas mit dem Auto auf einen Ausflug aufbrach, spurlos verschwand, und Tage später tot aufgefunden wurde – hunderte Meilen entfernt von ihrem eigentlichen Ziel – hat Scalzo auf dieser Grundlage ein melancholisches Roadmovie geschrieben.
They made up their minds
And they started packing
They left before the sun came up that day
An exit to eternal summer slacking
But where were they going without ever knowing the way?
Der Refrain tauscht den beschwingten Latino-Rocksound gegen lautere Alternative-Gitarren. Plötzlich geht es um das Schicksal der beiden Protagonisten:
„They'll never get cold
They'll never get hungry
They'll never get old and gray
You can see their shadows wandering off somewhere
They won't make it home
But they really don't care“
Textlich ist bei „The Way“ so viel mehr zu holen als in den allermeisten Rocksongs der mittleren bis späten Neunziger. Und auch musikalisch bringt dieses Lied einige Kilos auf die Waage. Natürlich reden wir hier von einem konventionellen Rocksong – niemand braucht waghalsige Tempowechsel, vierminütige Frickelsoli und epische Songlängen erwarten. Aber im Korsett des Genres ist „The Way“ ein herausragend komponiertes und strukturiertes Lied mit einem Refrain, der sicherlich zu den hartnäckigsten Ohrwürmern zählt, die man haben kann.
Oft kommen neue Lieblingslieder dann, wenn man es am wenigsten erwartet. Dieses neue Lieblingslied ist schon knapp 25 Jahre alt, aber warum sollte mich das stören? Wer wie ich in den Vierzigern angekommen ist, begreift irgendwann, dass Reife auch ihren Reiz hat.