Die Ausgangslage war katastrophal. Doch die Manic Street Preachers haben daraus das Beste gemacht und eine Hymne für die Ewigkeit geschaffen. James-Bond-Flair inklusive.

Das Jahr nach der Katastrophe

Es ist 1996. Und nein, deine Freundin ist nicht weg und bräunt sich in der Südsee.

Es ist 1996, das Jahr nachdem dein viertes Bandmitglied von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden ist. Der kreative Kopf hinter den Texten und dem Auftreten deiner Band. Jugendfreund und Gründungsmitglied der Band. Sein Auto wurde später verlassen in der Nähe der Severn Bridge gefunden. Jeder weiß, dass dort Menschen Selbstmord begehen. Dein Freund litt unter Depressionen und Anorexie. Er hatte sich ein paar Jahre vor seinem Verschwinden einmal vor laufender Kamera mit einem Messer die Worte „4 REAL“ in den Unterarm geritzt, um zu beweisen, wie ernst ihm seine Kunst war. Immer wieder fügte er sich selbst Verletzungen zu.

Es ist 1996 und jeder glaubt, dass es das war mit deiner Band. Ohne ihn. Es ist noch keine zwei Jahre her, dass ihr – noch zu viert – ein wegweisendes, grandioses Album namens „The Holy Bible“ veröffentlicht habt. Die Songs darauf waren extrem düster und handelten von Prostitution, Magersucht, Sterben, Wahnsinn. Der verschwundene Freund hatte fast alle Texte verfasst.

So gestaltete sich die Ausgangslage für die Manic Street Preachers im Frühjahr 1996. Richey James Edwards war weg und mutmaßlich tot. Wie sollte es weitergehen für die Band aus Wales, die Anfang des Jahrzehnts mit einer ebenso brachialen wie bizarren Mischung aus Punk-Ethos, Glam-Rock und Grunge die britische Musikszene betreten hatte?

Eine Band erfindet sich neu

Die Antwort: Mit einem Ausrufezeichen. Im April 1996 kehrte das Trio aus James Dean Bradfield, Nicky Wire und Sean Moore mit einem Paukenschlag zurück, den ihm niemand zugetraut hatte. „A Design For Life“ hieß der Song, der fortan die Karriere der Waliser prägen sollte wie keiner davor und danach. Platz 2 in den UK-Charts. Eine Hymne für die Massen, aber eben auch eine, die qualitativ ihresgleichen suchte.

„A Design for Life“ klang anders als alles, was die Band zuvor veröffentlicht hatte. Natürlich ganz anders als der dunkle Psycho-Trip auf „The Holy Bible“, aber auch anders als die teils skurrile Hardrock-trifft-Punk-Mischung auf ihrem Debüt „Generation Terrorists“ oder der kopflose Poser-Rock auf dem Nachfolger „Gold Against the Soul“.

Als hätten die Manic Street Preachers das Drama um Richey Edwards als Signal für einen Neuanfang genommen, wirkte nun alles aufgeräumter und durchdachter als zuvor. Melancholie und Wut schlossen sich nicht mehr gegenseitig aus, sondern gingen Hand in Hand. Mit einem zupackenden Mitsing-Refrain trafen die Band voll den Britpop-Zeitgeist. „We don't talk about love / We only want to get drunk“ - was für eine Zeile, was für eine Melodie. Doch während Blur und Oasis dieses Betrinken in patriotischen Überschwang gekleidet hätten, schwang bei den Manics ein anderer Subtext mit: die bissige Abrechnung mit der Arbeiterklasse.

Wer nicht den Refrain bemühen wollte, konnte schon an den ersten Textzeilen erahnen, dass hier ein Publikum außerhalb der Pubs angesprochen wurde:

„Libraries gave us power / then work came and made us free
What price now / For a shallow piece of dignity“

Streicher wie aus einem James-Bond-Film

Aber der Text allein ist es nicht, was „A Design for Life“ zu einem Klassiker macht. Auch musikalisch spielt der Song in der Champions League und ist unglaublich gut gealtert. Getragen von Sean Moores wuchtigem und majestätischem Schlagzeug legt die Band den oft beschworenen „Klangteppich“ aus, wobei die Bezeichnung in diesem Fall tatsächlich mal passt.  Alleine die Streicher-Sätze sind eine Klasse für dich und würden jedem James-Bond-Titelstück gut zu Gesicht stehen. James Dean Bradfield war schon immer ein begnadeter Gitarrist, doch im Vergleich zu den ersten Alben war er nun auch als Sänger merklich gereift.

„A Design for Life“ hat die Manic Street Preachers gerettet, und nicht nur das: dieses Lied hat die Band in ihrer schwersten Stunde urplötzlich in das verwandelt, was sie schon 1991 sein wollten – echte Rockstars. „Everything Must Go“, das wenig später veröffentlichte Album, schoss auf Platz 1 der Charts, die Band gewann „Brit Awards“ und nebenbei Legionen neuer Fans dazu. Bis heute prägt der Song die Karriere der Waliser und wird bei jedem einzelnen Konzert vom Publikum inbrünstig mitgesungen.

Für mich war „A Design for Life“ zwar nicht das erste Lied der Manics, das ich kennen und lieben gelernt habe – diese Ehre gehört dem mindestens ebenso großartigen „If You Tolerate This Your Children Will Be Next“ von 1998 (übrigens der ersten Nummer-Eins-Single der Band in Großbritannien). Aber nachdem ich die Manic Street Preachers entdeckt hatte, war „A Design for Life“ gleich als nächstes dran und schnell auch für mich ein Fixpunkt. Mit jedem Jahr, das vergeht, stelle ich fest, dass diese unwahrscheinliche Britrock-Hymne noch an Klasse hinzugewinnt. Wer hätte das 1996 gedacht?