Mit dem letzten Song auf ihrem legendären Unplugged-Album schufen Kurt Cobain und Co. einen Moment für die Ewigkeit. Gekrönt von einem großen, großen Finale.

Manche Dinge lassen sich im Englischen einfach besser auf den Punkt bringen. Der Begriff „a haunting performance“ etwa braucht in der deutschen Sprache eine umständliche Umschreibung. „Eine denkwürdige Performance“? Hm. Das ist der Vereinsrekord beim 100-Meter-Hürdenlauf auch. „Eine Darbietung, die unter die Haut geht“? Trifft es ebenfalls nicht so ganz, denn „haunting“, das bedeutet ja auch, dass es einen noch verfolgt, nicht loslässt, dass es im Gedächtnis bleibt.

Aber im Grunde ist es ziemlich egal, wie man den Begriff „a haunting performance“ genau ins Deutsche übersetzt. Alle Übersetzungen beschreiben Nirvanas „Where did you sleep last night?“ genau richtig. Mit dem letzten Lied ihrer legendären Unplugged-Session in New York schufen Kurt Cobain und seine Bandkollegen einen Musikmoment für die Ewigkeit. Einen, der im Gedächtnis bleibt, unter die Haut geht, einen nicht mehr loslässt, noch lange verfolgt. Dass das so ist, liegt in erster Linie an Cobain.

Kurt Cobains vielleicht größter Gänsehaut-Moment

All die Zu-spät-geborenen, die die Grunge-Welle nicht miterlebt haben und sich fragen, was eigentlich wirklich dran war am Mythos um Kurt Cobain, brauchen sich eigentlich nur diese knapp fünf Minuten anhören. Natürlich sollten sie sich danach noch alle weiteren Klassiker von Nirvana anhören, doch bei „Where did you sleep last night?“ zeigt der viel zu früh Verstorbene, was für ein begnadeter Künstler sich unter dem Gitarrenlärm, der Wut und der „Teenage Angst“ versteckte.

Vor allem das große Finale, in dem der Frontmann seiner Stimme ein fast schon schmerzendes Maß an Emotion abpresst, verursacht auch nach 30 Jahren noch Gänsehaut. Ich muss die weitere Geschichte an dieser Stelle nicht noch einmal aufrollen, sie ist ja wohlbekannt. Man weiß heute, dass Cobain nach dieser Performance nur noch wenige Monate zu leben hatte. Man ahnt in jedem einzelnen Lied der Unplugged-Session, wie es um sein Seelenleben bestellt war. Man sieht und hört ihn leiden, man spürt aber auch die künstlerische Kraft, ja Genialität, die aus diesem Leiden erwuchs. Und nirgendwo sieht und hört man das so eindrucksvoll wie in „Where did you sleep last night?“.

Nirvana beenden "MTV Unplugged" mit einem obskuren Folk-Cover

Wohl nur wenige Bands hätten ihr Unplugged-Set mit dem Cover eines uralten Folksongs beendet. Nirvana schon. Die Version, auf die sich die Band bezog, stammt vom 1949 verstorbenen und zuvor in Vergessenheit geratenen afro-amerikanischen Musiker Leadbelly (Huddie Ledbetter). Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie bei den Produzenten der MTV-Unplugged-Reihe die Augenbrauen nach oben gingen, als sie hörten, was Nirvana da an obskurem Material aus der Mottenkiste holten. Äh, vielleicht nicht doch lieber einen Hit spielen? „Lithium“, „Heart-Shaped Box“ oder „Smells like Teen Spirit“ als Akustik-Versionen? Cobain und Co. zerrten lieber diesen Song zurück ins Rampenlicht und machten ihn sich auf unnachahmliche Weise zu eigen.

Luft holen und die Augen aufreißen: Kurt Cobains großes Finale

„My girl / my girl / don't lie to me / tell me where did you sleep last night?“ - Es ist die uralte und doch niemals auserzählte Geschichte von der Eifersucht des gehörnten Liebhabers. Doch in Cobains „haunting performance“ (wir erinnern uns) bekommt die wütende Anklage eine verletzliche, fast schon zärtliche Seite.

„In the pines / the pines / where the sun don't ever shine / I would shiver / the whole night through“. Wenn Cobain im atemberaubenden Finale seine Stimme in die Höhe peitscht, wenn er nach „shiver“ abbricht, um Luft zu holen, ehe die letzten Worten gequält herausgepresst werden, dann ist seine Verzweiflung spürbar, ja greifbar. In der TV-Aufnahme des Konzerts ist zu sehen, wie der Sänger nach „the whole...“ für einen kurzen Augenblick seine zuvor geschlossenen Augen aufreißt. Wer in sie hineinsieht, schaut vielleicht in einen Abgrund. Auf jeden Fall mitten hinein in die gepeinigte Seele eines Menschen, der sich noch einmal zu großer Kunst aufbäumte.

Ein kurzes Aufreißen der Augen

Ich bin 1982 geboren. Als Kurt Cobain sich am 5. April 1994 in den Kopf schoss und sein Leben beendete, war ich elfeinhalb Jahre alt – zu jung und unbedarft, um mich dafür zu interessieren. Ich entdeckte Nirvana erst für mich, als der Sänger schon fünf Jahre unter der Erde lag. Doch seitdem ich das posthum veröffentlichte „MTV Unplugged in New York“ zum ersten Mal hörte, hat es mich nicht mehr losgelassen. Das gesamte Album ist ein Meilenstein und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das beste Unplugged-Album aller Zeiten.

Where did you sleep last night?“ war schon damals die bestmögliche Art, ein derart bedeutendes Album zu beenden. Und es ist immer noch der bestmögliche Schlussstrich unter eine viel zu kurze Musikkarriere.