Einer der besten Oasis-Songs ist gleichzeitig einer der unbekanntesten. Warum? Weil Noel Gallagher ihn nie auf einem Album veröffentlicht hat. Zeit, einem Rätsel auf den Grund zu gehen.
Wie konnte er nur? Was hat ihn da geritten? Und was haben die Freimaurer damit zu tun? In der heutigen Folge der Serie „Rätsel der Rockgeschichte“ gehen wir einer mysteriösen Episode aus der Zeit der Jahrtausendwende auf die Spur. Ihre Auswirkungen bekommen Krankenkassen noch heute zu spüren, da sich reihenweise Musikliebhaber in ärztliche Behandlung begeben müssen - und zwar nur wegen der Entscheidung eines einzigen Mannes. Er trägt schuld an den Nackenschmerzen zahlreicher Musikfans, hervorgerufen durch extremes Kopfschütteln. Hinter vorgehaltener Hand sprechen Orthopäden längst vom „Morbus Gallagher“.
Wer ist dieser Mann, der all das zu verantworten hat? Befassen wir uns also mit Noel Gallagher. Einem Menschen, der in seiner Musikerlaufbahn eindeutig mehr Dinge richtig als falsch gemacht hat. Eigentlich hat er fast nur Dinge richtig gemacht. Immerhin hat er „Champagne Supernova“ geschrieben. Und „Some Might Say“. Und „Don't Look Back in Anger“. Und „Live Forever“, „Supersonic“, „Whatever“ und und und. Meinetwegen auch „Wonderwall“. Jedenfalls: Noel Gallagher ist eine Koryphäe. Eine Legende, ein strahlender Held der britischen Musikszene.
Um so erstaunlicher mutet es an, dass denselben Mann, diesen so hochgeschätzten Songwriter, im Jahr 2000 sein Instinkt dermaßen im Stich ließ. Gallagher hat eines seiner besten Lieder – vielleicht das beste, das er nach Ende des Britpop-Hypes Mitte der 90er geschrieben hat – nicht auf einem Oasis-Album veröffentlicht. Nein, er verbannte es auf die B-Seite der Single „Go Let It Out“. Ließ es sozusagen in die Bedeutungslosigkeit verschwinden. Und da kommt eben das besagte Kopfschütteln bei Fans und Experten ins Spiel. Man kann nicht anders, wenn man "Let's All Make Believe" hört.
Es ist nicht zu fassen, dass er dieses wunderbare Lied nicht mit auf das Album „Standing on the Shoulder of Giants“ genommen hat. Diese Meinung habe ich übrigens nicht exklusiv. Das britische „Q Magazine“ veröffentlichte vor einigen Jahren eine Liste der „500 best lost tracks“ - auf Platz 1 thronte „Let's All Make Believe“. Dazu schrieb das Magazin den vielsagenden Kommentar: „If Standing on the Shoulder of Giants had contained this track, it probably would have got another star." Wer Google bemüht, findet zahlreiche Threads, in denen Oasis-Fans dieses Lied lobpreisen und sich genau die Fragen stellen, die zu Beginn dieses Artikels schon gestellt wurden (ohne die Freimaurer natürlich). Wie konnte er nur? Was hat ihn da geritten?
Verstehen muss man das nicht. Fraglos hätte "Let's All Make Believe" das Zeug zu einer Single gehabt. Wäre vermutlich sogar ein Hit geworden wie "Go Let it Out" (Platz 1 in Großbritannien). Ich vermute, dass Noel Gallagher selbst überrascht war von diesem Liedchen, das er da geschrieben hat. Und dass dies dem Lied gewissermaßen zum Verhängnis wurde. „Let's All Make Believe“ ist nämlich nicht nur ein großartiger Oasis-Song, sondern auch ein sehr ungewöhnlicher. Er lebt im Vergleich zu den frühen Britpop-Klassikern sehr von einer dramatischen, fast schon düsteren Grundstimmung.
Liam Gallaghers Gesang wird zunächst nur von spärlicher Instrumentierung begleitet. Akustikgitarre, Klavier, etwas Percussion. Dazu singt er Zeilen, die so gar nicht nach Pub, Bier und Fußball klingen:
"Strangle my hope and make me pray /
to a god I've never seen but who I betray"
Und im Refrain regiert zu einer Ohrwurm-Melodie erster Güte die Hoffnung auf menschlichen Zusammenhalt in Zeiten, in denen alles zerbricht:
"So let's all make believe /
we're still friends and we like each other /
let's all make believe /
In the end we're gonna need each other"
Erst nach dem zweiten Refrain setzt die gesamte Band ein und lässt den Song mit einer instrumentalen Bridge in die Lüfte abheben. Nach einem letzten, zupackenden Refrain platzt plötzlich noch ein orientalisch anmutendes Outro herein – auch das absolut ungewöhnlich für eine Noel-Gallagher-Komposition.
Mir fällt nur ein anderes Lied im prall gefüllten Oasis-Katalog ein, das "Let's All Make Believe" in Sachen Dramatik das Wasser reichen kann - und das ist "Rockin' Chair". Ein ältere Komposition, die in der "Morning Glory"-Ära ebenfalls zur B-Seite degradiert wurde.
Es ist also klar: dieser Song macht einiges anders als die Gassenhauer, mit denen Oasis in den Jahren 1994 bis 1996 die britische Musikszene auf links drehten. Aber deren große Zeit war zur Jahrtausendwende eben vorbei. Die Britpop-Welle war in sich zusammengebrochen, die Jugend hatte statt "Cool Britannia" plötzlich Bock auf Alternative-Rock und Nu Metal. Mit dem im Drogenrausch entstandenen Album „Be Here Now“ hatten die Gebrüder Gallagher 1997 ihr Blatt ausgereizt. Nach anfänglicher Euphorie zeigte die Öffentlichkeit dem überproduzierten, aufgeblähten Album irgendwann die kalte Schulter. Es folgte der kalte Entzug: Mit Gitarrist „Bonehead“ und Bassist „Guigsy“ verließen zwei Gründungsmitglieder die Band. Die Zeichen standen auf Neuanfang.
Noel wollte den Sound seiner Band zumindest ein bisschen anpassen. Das zeigte schon die (ebenfalls sehr starke) Single "Go Let it Out", das erste Lebenszeichen nach zwei Jahren Pause. Drumloops, elektronische Schnipsel, all das wäre noch 1997 bei Oasis undenkbar gewesen, d'you know what I mean?
Aber es sollte eben nicht zu viel Veränderung auf einmal sein. Der Verdacht liegt nahe, dass Noel den Fans nicht auch noch "Let's All Make Believe" mit seiner epischen Dramatik zumuten wollte. Also: B-Seite.
Das im Frühjahr 2000 erschienene Album „Standing On the Shoulder of Giants“ war kein ganz schlechtes Oasis-Album, aber sicherlich nicht das beste. Wie das „Q Magazine“ treffend feststellte, hätte es ein besseres Album sein können, wenn „Let's All Make Believe“ drauf gewesen wäre – zum Beispiel an Stelle des eher dödeligen Kneipenrock-Songs „Put Yer Money Where Your Mouth Is“.
Bei all der Lobhudelei darf der ander Gallagher nicht untergehen. Denn Liam liefert auf „Let's All Make Believe“ eine seiner eindringlichsten Performances ab. Dieses Level konnte er danach, bis zur Auflösung der Band 2009, eigentlich nie wieder erreichen. Als Live-Sänger war er zu dieser Zeit ohnehin bereits auf dem absteigenden Ast (zum Beweis YouTube bemühen und die Suchbegriffe „oasis live 1995“ und dann „oasis live 2005“ eingeben).
Der Lösung des Mysteriums sind wir nun zwar keinen Schritt nähergekommen. Aber dafür hatten wir eine gute Gelegenheit, eines der besten unbekannten Oasis-Lieder noch einmal anzuhören. Und das, liebe Rätselfreunde, ist doch, worauf es ankommt.