Ein Text über mein Verhältnis zu diesem Lied ist auch ein Text über Zeit. Genauer gesagt über ihr Dahinfließen. Noch genauer über die Veränderung meiner musikalischen Vorlieben im Laufe der Jahre.

Denn überraschenderweise werde auch ich älter. Jedes Jahr im Spätsommer korrigiert sich die Zahl meiner Lebensjahre um eine Stelle nach oben, dagegen kann ich rein gar nichts tun. Und besonders in den letzten paar Jahren stelle ich fest, dass ich das Schicksal mehrerer Artgenossen teile, die die Dreißig überschritten haben oder sich sogar schon rasant der Vierzig nähern – sie können mit vielem von dem, was ihr zwanzig- oder fünfundzwanzigjähriges Ich einst großartig fand, nicht mehr allzu viel anfangen.

Das ist einerseits völlig normal. Andererseits auch ein bisschen schade, zumindest wenn man einen leichten Hang zur Melancholie hat. Es ist immer eine Abwägungssache. Ich persönlich vermisse den Menschen, der einmal Green Day für eine brillante Band hielt und Nickelback für zumindest Okay, nicht übermäßig. Da bin ich lieber mein jetziges Ich. Dieses schätzt zwar Skatepunk und Melodycore als Genres immer noch, hört aber so gut wie kein Lagwagon, No Use For a Name oder Bad Religion mehr. So ist es halt, wenn sich die persönlichen Parameter verschieben. Warum sollte ich als zweifacher Familienvater, dessen Leben auf die Gleise gesetzt ist, noch so tun, als wäre Rebellentum gegen Was-auch-immer mein Hauptantrieb?


Eine Band - drei Schaffensphasen

Eine Band, an der sich die Verschiebung meiner musikalischen Koordinaten exemplarisch ablesen lässt und die doch einen Sonderfall darstellt, ist Tocotronic. An dieser Stelle muss ich etwas ausholen. Eigentlich bewundere ich Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank schon seit meiner Schulzeit, daran hat sich trotz einer vorübergehenden Abkühlphase etwa Mitte der Nullerjahre nichts geändert.

Aber Tocotronic gibt es eben in mehreren Ausführungen. Da wäre einmal das junge Trio aus den mittleren bis späten Neunzigern mit seinen wütenden, teils eineinhalbminütigen Punksongs und Slogans – Ihr wisst schon, „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, „Michael Ende, du hast mein Leben zerstört“ oder „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“. Diesen folgten die Übergangs-Tocotronics aus den Jahren von etwa 1999 bis 2005, eine nicht mehr ganz junge, aber auch noch nicht ins endgültige Fahrwasser gebrachte Band auf der Suche nach einer neuen Identität. Die Songs wurden ausgefeilter, sperriger, die Texte verschrobener und der Sound entwickelte sich mit jedem Album weiter weg von dem Lärm der Frühphase. Und dann haben wir da noch die mittlerweile zum Quartett angewachsene Band der letzten etwa fünfzehn Jahre, die mittlerweile souverän ihren Status als Deutschlands Vorzeige-Intellektuellenrockband verwaltet und sogar zweimal an die Spitze der Charts gelangte, zuletzt mit dem stark autobiographisch gefärbten Album „Die Unendlichkeit“, auf dem Dirk von Lowtzow seine offenbar überaus frustrierende Jugend in der Schwarzwald-Provinz verarbeitete.


Sie kamen, um sich zu beschweren

Nun zu mir. Als ich mein Abitur machte, drückte die erste Tocotronic-Inkarnation genau das aus, was ich fühlte (oder zumindest zu fühlen glaubte). Es war laut, es war roh und unangepasst. Nicht  dass ich persönlich irgend etwas davon gewesen wäre – aber meiner Meinung nach musste man als Heranwachsender an der Schwelle zum Erwachsenen eben so sein.

Von meinem spärlichen Geld kaufte ich mir das Album „Wir kommen, um uns zu beschweren“, weil mir Titel und Cover am meisten zusagten. Und was für ein rotziges, knackiges Album das war – und immer noch ist! Direkt danach legte ich mir das bis heute legendäre Debütalbum „Digital ist besser“ zu, und ja, auch das zwischendrin veröffentlichte und gerne etwas übersehene „Nach der verlorenen Zeit“. Was für ein Dreierschlag der ungezügelten, wilden Jugend. Anti-Haltung auf Platte, bewusst unperfekt und dilettantisch aufgenommen, aber voller Attitüde. Und bei aller Wut und Hass doch auch verletzlich. Wer ist das nicht in diesem Alter? Wir alle hatten doch auch Enttäuschungen erlebt und schmerzhaft erfahren müssen, dass die Welt uns tatsächlich nicht (mehr) versteht. „Ich möchte irgendetwas für dich sein – am Ende bin ich nur ich selbst.“ Tja.

Vielleicht war meine Affenliebe zu den frühen Tocotronic der Grund, warum ich die Weiterentwicklung der Band mit mehr als nur gespaltenen Gefühlen verfolgte. Vermutlich lag es aber eher an meiner Engstirnigkeit, meiner mangelnden Flexibilität, meinem, na ja, konservativen Verständnis von Rockmusik. Jedenfalls: Als sich mit „This Boy is Tocotronic“ im Sommer 2002 die Vorabsingle zum fünften, selbstbetitelten Album der Band ankündigte, war ich alles andere als begeistert.

Klar, irgendwie klang das noch nach Rock. Aber mir war es trotzdem schon zu steril. Zu roboterhaft der Beat, zu wenig wütend Dirk von Lowtzows Gesang, zu gedämpft das Gitarrenriff. Wo waren die Slogans hin, die klaren Ansagen? „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“! „Gehen die Leute auf der Straße eigentlich absichtlich so langsam“! Das wollte ich damals hören – Gesellschaftskritik, Abgrenzung, Trotz. Nicht kryptisch-schmalzige Textzeilen wie „Du liegst neben mir / und dann / blicken wir uns an / deine Augen sehen / was meine Augen sehen“.

Nun, langer Rede kurzer Sinn – ich verlor in den folgenden Monaten und Jahren das Interesse an Tocotronic. Las zwar noch die Rezensionen zu den folgenden Alben, aber aus denen konnte ich höchstens folgern, dass die Band den Weg in Richtung eines kauzigen, gemäßigten Indierock-Sounds konsequent weiterging. Das reizte mich nicht. Zwar brannte auch in mir längst nicht mehr das Feuer der Teenagerjahre – so denn überhaupt jemals eines gebrannt hatte. Aber egal: einmal drin, kam ich nur schwer wieder aus der Ablehnungshaltung heraus.


Eine spontane Wieder-Annäherung mit überraschenden Erkenntnissen

Die Trendwende kam mit dem 2010 erschienen Album „Schall und Wahn“, das ich aus einer Laune heraus anhörte und für überraschend gut befand. Danach holte ich schnell alle weiteren verpassten Alben nach und machte meinen Frieden mit der neuen Inkarnation meiner alten Lieblingsband. Ironischerweise ist „Ich mache meinen Frieden mit euch“ ein Lied auf meiner Jugendliebe „Wir kommen um uns zu beschweren“, aber das tut hier nichts zur Sache.

Jetzt aber zurück zu „This Boy is Tocotronic“. Vor nicht allzu langer Zeit stellte ich fest, dass ich mit diesem Lied nicht nur meinen Frieden gemacht habe. Nein, ich musste einsehen, dass ich es damals völlig falsch wahrgenommen hatte. Von Sterilität ist dieses Lied so weit entfernt wie Frankfurt vom Mittelmeer. Vielmehr jongliert hier eine Band unerhört gut mit allem, was man gemeinhin unter dem Deckmantel „Rock“ vermutet. Tatsächlich ist „This Boy is Tocotronic“ die absolut logische Weiterentwicklung des frühen, dilettantischen Punk-Sounds.

Die Wucht ist schon noch da, nur filigraner verpackt und vor allem besser produziert. Wer ein Lied zudem mit einem energisch gepressten „Ja! Das ist jetzt!“ eröffnet, kann keine Anbiederung an den Mainstream im Hinterkopf haben. Klar erkennbar ist „This Boy is Tocotronic“ als Indie-Hymne konzipiert und ist genau das geworden. Was nicht nur an Arne Zanks treibendem Schlagzeug liegt, nicht nur am zwischen Slogan und Dadaismus schwankenden Songtext, nicht nur an dem wirklich zackigen Riff, das Strophe und Refrain dominiert, nicht nur an dem vogelwilden Tapping-Solo (so etwas gab es davor und danach bei Tocotronic nie wieder) – sondern am Zusammenspiel all dieser Zutaten.

Es ist einfach Rockmusik

Manchmal kommt die Einsicht spät, aber besser spät als nie. „This Boy is Tocotronic“ ist ein großer Song, ein Song von internationalem Format – trotz des deutschen Textes. Er passte vielleicht nicht optimal ins Jahr 2002. Aber im Grunde haben sich Tocotronic sowieso immer der jeweiligen Zeit entzogen.

Müsste man „This Boy is Tocotronic“ mit einer der vielen zitierfähigen Textzeilen aus dem bandeigenen Fundus beschreiben, so wäre es diese hier: Es ist einfach Rockmusik. In diesem Fall ziemlich gute.