Neulich war ich auf einem Rockkonzert. Das mache ich öfters, wenn ich mal nicht weiter weiß. Ich gehe auf Konzerte, und hinterher weiß ich Bescheid. Am Veranstaltungsort des Konzerts – Veranstaltungsort ist der neudeutsche Begriff für Location – gab es eine Garderobe, die sich allerdings im Keller befand. Wer also an diesem nasskalten Abend seine dicke Jacke abgeben wollte – und das wollten die meisten – musste sich in eine lange Schlange durch das Treppenhaus einreihen. Als ich mittendrin stand in dieser langsam sich um zahlreiche Ecken windenden Reihe aus Menschenleibern, dachte ich mir noch: "Hoffentlich reißt jetzt niemand den abgestandenen 'Steht-ihr-etwa-alle-fürs-Frauenklo-an'-Spruch". In diesem Augenblick brüllte ein Neuankömmling am Ende der Schlange: "Steht ihr etwa alle fürs Frauenklo an?". Sofort antwortete eine extrem laute, männliche Stimme in meiner Nähe: "Nein, fürs Männerklo!". Woraufhin die komplette Schlange in Gelächter ausbrach, als hätten soeben Monty Python samt dem wiederauferstandenen Graham Chapman eine besonders skurille Version des "Dead parrot"-Sketches aufgeführt. Was aber erwiesenermaßen nicht der Fall war. Die Wahrheit war weitaus betrüblicher: Irgendjemand hatte einen furchtbar platten Spruch abgelassen, und jemand anderes hatte das denkbar unlustigste darauf erwidert.
Es ist immer das Gleiche, wenn man irgendwo ansteht. Die Menschenmenge einigt sich stillschweigend darauf, das Humorniveau ganz unten anzusiedeln. Es passiert nie, wirklich nie, dass mal jemand die Wartezeit mit einem wirklich guten Witz verkürzt wie diesem hier: Ein fremder Mann klingelt bei einem Haus an der Tür. Der Familienvater öffnet. "Hallo", sagt der Fremde, "mein Name ist Umberto, und ich bin hier, um mit Ihrer Tochter zu schlafen!" "Um was?", fragt der Vater empört. "Umberto!", sagt der Mann.
Nein, das ist nie der Fall. Dafür gibt es in jeder Menschenschlange einen mit extrem lauter Stimme und meist fränkischem Dialekt, der zielsicher am Boden des Niveaubeckens entlangtaucht, und stets findet er einen Partner mit mindestens genauso lauter Stimme, der ihm am Beckenboden entgegenkommt. Und immer feiert der Rest der Schlange mit beiden eine große Poolparty. Warum das so ist, weiß ich nicht. Die Wissenschaft hat dieses Phänomen bislang vernachlässigt. Ich kann auch nur Vermutungen anstellen, doch vielleicht steckt die urdeutsche Angst vor dem Verlust von Sicherheit dahinter. Vielleicht treibt sie die Menschen dazu an, immer die plattesten und offensichtlichsten Sprüche zu reißen. Denn etwas Progressives zu sagen, hieße sich auf dünnes Eis zu begeben. Zu groß ist bei einem gewitzten Spruch die Gefahr, dass ihn niemand überreißt und der Spruchabgebende am Ende dasteht wie ein Mobbingopfer. Was natürlich niemand will. Also klammert man sich an Platitüden, die Mario Barth ein breites Grinsen in die hämischen Gesichtszüge zaubern würden.
Aber zurück zu besagtem Konzert. Nach einigen weiteren Sinnsprüchen über die unfassbar lustigen Unterschiede zwischen Mann und Frau war ich meine Jacke schließlich los, gerade noch rechtzeitig, denn schon schlich die Vorband auf die Bühne. Links vor mir tauchte plötzlich ein mindestens zwei Meter großer Mann auf. Auch das ist ein ständig wiederkehrendes Phänomen. Ich selbst bin mit über Einsneunzig nicht gerade spärlich dimensioniert, aber bei jedem Konzert, egal ob vor drei oder dreitausend Leuten, gibt es immer einen, der noch größer ist als ich und der als einziger im Konzertsaal einen fest zugewiesenen Platz hat, nämlich genau zwischen mir und der Bühne. So auch diesmal. Während die Vorband sich redlich abmühte, wanderte der Riese langsam nach rechts und schob sich zentimeterweise in mein Blickfeld. Anfangs konnte ich noch dagegensteuern, indem ich mich selbst nach rechts bewegte. Doch irgendwann war eine natürliche Grenze erreicht, nämlich eine hübsche Blondine samt männlichem Begleiter, der wiederum nicht den Anschein erweckte, als würden ihn Erklärungen meinerseits über die Gründe für die Annäherung an seine Freundin sonderlich interessieren. Schließlich hatte der Zwei-Meter-Mann seinen zugewiesenen Platz direkt vor mir eingenommen. Nach links zurückweichen konnte ich nicht mehr, der Saal war mittlerweile komplett gefüllt. Und so verbrachte ich den Rest des Konzerts mit dem Studium der Schweißperlen im Nacken meines Vordermannes. Ich weiß jetzt übrigens, dass Schweißperlen auch seitwärts rutschen können. Das war mir vorher noch gar nicht bewusst.
Nachdem die Vorband es schließlich überstanden hatte und die Umbaupause einsetzte, drehte sich der Riese plötzlich um und brüllte über meinen Kopf hinweg in stark fränkischer Munadart: "Wo bleibt denn der Max? Steht der in der Schlange vorm Klo an, oder wie?" Es folgte ohrenbetäubendes Gelächter des gesamten Konzertsaals. Viele der Besucher rangen noch um Luft, als von hinten einer zurückbrüllte: "Ja! Und zwar vorm Frauenklo!" Um mich herum versank die Welt in Lachen, und für einen Augenblick meinte ich, vorne auf der Bühne John Cleese und Michael Palin zu erblicken. "Listen", rief John Cleese, "This parrot is no more! He has ceased to be! This is an Ex-Parrot!"
Das Lachen verstummte, und ich beschloss, es der Vorband gleichzutun und ein Frustbier zu trinken. An der Bar musste ich mich in eine lange Menschenschlange einreihen. "Na, auch so lange angestanden bei der Garderobe?", fragte mich jemand. "Ja", erwiderte ich, "da hätte ich ja gleich aufs Frauenklo gehen können." Wir lachten beide.